Wie kann Frieden gelingen? Gespräch mit Pepo  Mautner

13.12.2024

Ein Gespräch mit zu den Herausforderungen und Chancen von Friedensethik und Friedenshandeln

TT: Du hast zusammen mit anderen Autoren das Buch "Friedensethik der Zukunft" verfasst. Was versteht man unter Friedenethik?

Pepo: Die Friedensethik hat eine lange Entstehungsgeschichte sowohl in philosophischer als auch in theologischer Hinsicht, denn auch in den Religionen spielt das Nachdenken über Frieden und Friedenshandeln eine wichtige Rolle. In der Moderne befassen sich Disziplinen wie die Soziologie und die Politikwissenschaften damit. Krieg und Gewalterfahrungen ziehen sich durch die ganze uns bekannte Menschheitsgeschichte und damit auch der Wunsch nach Frieden. Der Begriff Frieden wird meistens mit dem Gegenteil von Krieg gleichgesetzt. Als die moderne Friedensbewegung im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre ihren Aufschwung erlebte, wurde jedoch ein erweiterter Friedensbegriff entwickelt. Diesem zufolge bedeutet Frieden mehr als nur die bloße Abwesenheit von Krieg.

Die Ethik ist eine philosophische Disziplin, die sich mit den Rahmenbedingungen und der Bewertung menschlichen Handelns befasst. In der Friedensethik geht es darum, herauszufinden, welche gesellschaftlichen Strukturen Gewalt fördern und welche Rahmenbedingungen es für den Frieden braucht. Es geht aber auch um das konkrete und praktische Handeln, sowohl in zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in der Politik. Polarisierende und abwertende politische Diskurse, wie sie der Rechtspopulismus auf die Spitze getrieben hat, sind eindeutig gewaltfördernde Sprachhandlungen. Es lässt sich zudem feststellen, dass sich Gewaltprozesse unabhängig von Kriegen oder verstärkt schon vor dem Ausbruch eines Krieges innerhalb der Gesellschaft abzeichnen: etwa in Form von Feindbildern, häuslicher Gewalt, in der Ungleichbehandlung der Geschlechter oder durch Gewalt im Arbeitsbereich durch Mobbing und hierarchische Arbeitsbeziehungen.

Die Friedensethik sagt aber auch, dass Frieden immer mit gerechten sozialen Strukturen zusammenhängt. Ohne Gerechtigkeit kein Friede, das ist, könnte man sagen, das Motto der Friedensethik. Das andere ist der Zusammenhang zwischen Frieden und Menschenrechten. Ich selbst bin zum Friedensthema gekommen, weil mir klargeworden ist, das Frieden immer mit den fundamentalen Grundrechten zu tun, die einem Menschen zustehen, die aber nicht immer realisiert werden können.

TT: Aus welcher Motivation und mit welchen Absichten habt ihr das Buch herausgebracht?

Pepo: Mit dem Salzburger Theologen Alois Halbmayr verbindet mich eine lange Zusammenarbeit zu dieser Thematik. Seit dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine ist jedoch deutlich geworden, dass sich der Diskurs in den Medien und in den Sozialen Medien verschoben hat. Der Friedensbegriff wurde zunehmend umstrittener. Plötzlich war es nicht mehr selbstverständlich, von Frieden zu reden. Die Friedensbewegung, die es noch gegeben hat und zum Teil noch gibt, hat sich in ihren Positionen zum Ukrainekrieg relativ weit auseinanderentwickelt. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die sich für Waffenlieferungen aussprechen, weil sie meinen, dass es für demokratische Gesellschaften in Europa lebensnotwendig sei, die Ukraine in diesem Verteidigungskrieg zu unterstützen. Die andere Position spricht sich strikt gegen Waffenlieferungen und die Einmischung der NATO in diesen Krieg aus. Angesichts der Tatsache, dass die Positionen hier so weit auseinandergehen, wollten wir versuchen, das Thema Frieden aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Wir haben Autoren und Autorinnen mit unterschiedlichen Erfahrungswelten eingeladen, welche die Friedensethik aus ihren Positionen heraus beleuchten, um die Leser*innen einzuladen, differenzierter über die herausfordernde Situation nachzudenken. Wir wollten uns aber auch nicht auf die europäische Perspektive beschränken, sondern auch auf weniger beachtete Kriege in anderen Teilen der Welt aufmerksam machen – den Krieg in Gaza hat es zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches noch nicht gegeben. Es war uns aber auch wichtig, den Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht herzustellen, weil ja auch hier in Salzburg viele Menschen leben, die Erfahrungen mit Krieg und Gewaltsituationen haben.

TT: Wie wirkt sich der Krieg auf das Denken der Menschen und die Sprache aus?

Pepo: Eine Erkenntnis, die ich durch die Recherchen zu diesem Buch gewonnen habe, ist die, dass unsere Wahrnehmung in Bezug auf Kriegs- und Gewaltsituationen stark eingeschränkt ist. Wir stehen meist einer extrem polarisierenden "Freund-Feind"-Dichotomie gegenüber, von der unsere Wahrnehmung programmiert wird. Darüber hinaus fokussiert sich die mediale Kriegsberichterstattung auf die Kriegssituationen, die einen unmittelbaren Bezug zu Europa und zur europäischen Geschichte haben wie der Krieg in der Ukraine. Beim Gaza-Krieg ist es ähnlich, denn die europäische Wahrnehmung des Konflikts ist stark vom Holocaust geprägt. Andere Kriege dagegen – wie der im Sudan, wo derzeit eine der größten Flüchtlingskatastrophen stattfindet – liegen völlig im Schatten.

TT: Was braucht es, um einen Konflikt zu deeskalieren? Inwiefern kann die Friedensethik dabei helfen?

Pepo: Wir versuchen, verschiedene Ansätze von Friedenshandeln vorzustellen, zum Beispiel die der christlichen Ökumene im Ukraine-Krieg, aber auch feministische Perspektiven. Kriege werden meistens nur in globalen Zusammenhängen betrachtet, was jedoch den einzelnen Menschen keine Handlungsperspektiven lässt und oft Ohnmachtsgefühle hervorruft. Wenn wir jedoch versuchen, Friedenshandeln in kleinen praktischen Schritten anzudenken, ergeben sich Handlungsmöglichkeiten. Im Buch stellen wir feministische Friedensprojekte vor, die mit Frauen aus der Ostukraine zusammenarbeiten. Diese Region war schon vor dem Überfall der Russischen Föderation hoch militarisiert, und es ist zu Kriegshandlungen zwischen den sogenannten "Separatisten" und der ukrainischen Armee gekommen. Die Frauen im Donbass haben im Rahmen der Projekte erzählt, dass mit der zunehmenden Militarisierung auch ein signifikanter Anstieg häuslicher Gewalt einhergegangen war, worunter insbesondere Frauen sehr stark gelitten haben. Daran erkennt man, wie sehr die Gesellschaft über die unmittelbare militärische Auseinandersetzung hinaus von Gewalt geprägt war.

TT: Warum ist es gerade dort zu verstärkter Gewalt an Frauen gekommen?

Pepo: Das hat sicher mit dem enormen Druck und der Angst, denen die Männer als Soldaten ausgesetzt sind, zu tun, wahrscheinlich aber auch mit der Zunahme des patriarchalen Machismo, der in einer militarisierten Gesellschaft besonders stark zum Tragen kommt. Viele der Frauen, die ihren Kindern die Gewalt nicht mehr zumuten wollten, sind dann in die Westukraine oder in andere europäische Länder geflohen, nicht wenige von ihnen leben heute in Österreich oder in Salzburg. Die Flucht war für die Frauen wiederum mit vielen Herausforderungen verbunden. Diese Erfahrungen aufzuzeigen und zur Sprache zu bringen, gehört unserer Ansicht nach ebenfalls zum Friedenshandeln.

TT: Inwiefern haben Initiativen wie die von dir genannten Frauengruppen die Möglichkeit, politische Entscheidungsträger zu beeinflussen?

Pepo: Annemarie Sancar von der Friedensinitiative FriedensFrauenWeltweit schreibt, dass es Überlegungen gibt, wie eine Gesellschaft im Donbass nach dem Krieg aus Perspektive der Frauen aussehen sollte, und was für die Frauen für den Aufbau dieser neuen Gesellschaft wichtig ist. Die Initiativen haben die Frauen dabei unterstützt, ihre Erfahrungen in konkrete Forderungen zu übersetzen, die politisch wirksam werden können.

TT: Haben sich diese Frauengruppen auch schon vor dem russischen Angriff gegen den Krieg gewendet?

Pepo: Bei den vorgestellten Organisationen handelt es sich um feministische Gruppen, die sich formiert haben, um sich für die Rechte der Frauen einzusetzen. Durch die Gewalterfahrungen ist jedoch die Frage, wie man Gewalt verarbeiten und in Gewaltsituationen überleben kann, in den Vordergrund getreten.

TT: Auch wenn die Kampfhandlungen beendet werden, bleibt nach einem Krieg meist eine tief gespaltene Bevölkerung zurück – wie wir es am Beispiel von Bosnien sehen können. Wie kann Versöhnung erreicht werden?

Pepo: Ich denke, erstens ist die Erinnerung an die im Krieg begangenen Verbrechen, das Leiden und die Gewalt von Kriegshandlungen ganz wichtig – wie das Gedenken an die Opfer des Massakers in Srebrenica zeigt – und eben die Kontroverse um den 11. Juli, der 2024 von der UN-Vollversammlung offiziell zum Gedenktag erklärt wurde. Wenn die Erinnerungskultur in einer Nachkriegsgesellschaft jedoch nicht aktiv betrieben wird, besteht die Gefahr, dass die tiefen Gräben, die ein Krieg hinterlässt – insbesondere ein Krieg zwischen Nachbarn, die zu Kriegsgegnern wurden, weil sie sich zu aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen ethnischen Gruppen definiert haben –, nie zugeschüttet werden. Ein Krieg geht zudem oft mit Rassismen und Faschismen einher – in Österreich und Deutschland haben wir da unsere eigene Geschichte. In einer Nachkriegsgesellschaft braucht es deshalb auch eine gerechte Verteilung von Ressourcen und soziale Absicherung. Wenn ein Land wie Bosnien von Armut gekennzeichnet ist und dann noch eine ungerechte Verteilung dazukommt, sind neue Konflikte vorprogrammiert. Nur ein Frieden, der auf sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beruht, kann Bestand haben.

TT: Du schreibst du über den Kindersoldaten Clément. Handelt es sich dabei um eine reale Person?

Pepo: Die Geschichte ist real und gleichzeitig fiktiv, weil sie sich aus Erzählungen zusammensetzt, die ich von verschiedenen Personen gehört habe. Ich habe tatsächlich Geflüchtete kennengelernt, die als Kindersoldaten rekrutiert wurden und von diesen Erfahrungen tief geprägt worden sind. Der Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht steht in der aktuellen Debatte jedoch leider meist viel zu sehr im Hintergrund. Es wird eine Vorstellung von den sogenannten "irregulären Migranten" verbreitet, die nach Österreich kommen, weil sie ein besseres Leben suchen. Meine Erfahrung ist aber, dass der größte Teil der Geflüchteten vor Kriegs- und Gewaltsituationen geflohen ist, und nicht, um hier möglichst viel Geld zu verdienen, um es an die Familie nach Hause schicken zu können, obwohl natürlich auch solche Motive eine Rolle spielen. Man muss sich nur die Herkunftsländer anschauen, aus denen die Mehrzahl der Geflüchteten kommen. Dort spielen Krieg und Gewalt eine große Rolle, selbst wenn es sich nicht um explizite Kriegsgebiete handelt. Dazu kommt noch die Gewalt, die die Menschen auf dem Fluchtweg erfahren, der ja oft jahrelang dauert.

TT: Am Beispiel von Clément schilderst du auch die Traumatisierungen, unter denen diese Menschen leiden, selbst wenn sie jetzt hier in Sicherheit sind.

Pepo: Genau. Insofern bin ich der Überzeugung, dass Flüchtlingsarbeit auch Friedensarbeit ist, weil sie versucht, die Folgen der Gewalt aufzuarbeiten. Wenn das nicht geschieht und wenn eine Aufnahmegesellschaft wieder ausschließend, diskriminierend und abwertend mit Geflüchteten umgeht, erfahren diese eine Retraumatisierung, und der Kreislauf der Gewalt findet kein Ende. Hier in Salzburg gibt es jedoch nur zwei kleinere Initiativen, die Psychotherapie für Geflüchtete anbieten, Sotiria von der Caritas sowie Hiketides. Diese können leider nur viel zu wenige Plätze für eine psychotherapeutische Begleitung von Geflüchteten anbieten.

TT: Die europäische Abschottungspolitik richtet sich gegen die Menschen, die Opfer von Krieg und Gewalt geworden sind. Was kann man tun, um den gesellschaftlichen Diskurs in eine andere Richtung zu lenken?

Pepo: Uschi Liebing und ich haben im Rahmen einer Untersuchung zur Situation von Geflüchteten in der Grundversorgung viele Quartiere besucht und mit den dort untergebrachten Geflüchteten und ihren Betreuer*innen gesprochen. Dabei ist uns aufgefallen, dass die Zahl der Ehrenamtlichen, die mit Geflüchteten arbeiten, seit 2015/16 drastisch abgenommen hat. Damals hat es in allen Quartieren Gruppen von Ehrenamtlichen gegeben, die Unterstützung beim Deutschlernen angeboten haben, die Leute zu Ämtern begleitet oder Kleidersammlungen organisiert haben. Heute dagegen haben wir viele Quartiere, wo es kaum Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung gibt. Eine Richtungsänderung in dieser Debatte kann aber nur über den persönlichen Kontakt passieren. Nur so können Vorurteile entkräftet werden, die ja meist jeglicher Grundlage entbehren. Oft wird beispielweise behauptet, dass die Flüchtlinge nicht arbeiten und "auf der faulen Haut liegen" wollen. Bei unserer Befragung haben wir jedoch festgestellt, dass der Wunsch nach Arbeit bei den meisten an erster Stelle steht. Die Leute sagen, wir möchten nicht dem österreichischen Staat auf der Tasche liegen, sondern unseren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Wenn das nicht möglich ist, wollen wir zumindest freiwillige Arbeit leisten. Die Plätze für Gemeinnützige Beschäftigung sind jedoch so limitiert, sodass nur

wenige in den "Genuss" kommen, über einen beschränkten Zeitraum irgendwo in einer Gemeinde arbeiten zu können.

TT: Wie könnte konkretes Friedenshandeln aussehen?

Pepo: Mir erscheint es wichtig, dass sich die unterschiedlichen Vereine, Organisationen und Gruppen, die in der Menschenrechtsarbeit, in der Friedensarbeit oder in der Flüchtlingsarbeit tätig sind, vernetzen und darüber nachdenken, wie sie gemeinsam für die und mit den Betroffenen von Kriegs- und Gewalthandlungen arbeiten können. Dabei ist es vor allem wichtig, hinzuhören, welche Bedürfnisse diese Menschen haben. Außerdem ist es wichtig, politisch aktiv zu werden und in die Öffentlichkeit zu gehen, und das geht eben besser vernetzt.

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Alois Halbmayr/Josef P. Mautner (Hg.)

Friedensethik der Zukunft

Zugänge, Perspektiven und aktuelle Herausforderungen

Die Zukunft der Friedensethik steht auf dem Spiel: Der Krieg in Europa und asymmetrische Konflikte weltweit bringen das Konzept in Bedrängnis. Die Beiträger*innen stellen sich dieser Herausforderung und entwickeln Entwürfe für ein positives und umfassend formuliertes Friedensverständnis. Sie beleuchten verschiedene Zugänge sowie die gegenwärtige Entwicklung der Friedensethik und diskutieren aktuelle Probleme. Anhand des Israel-Palästina-Konflikts, des Kriegs in der Ukraine, der europäischen Asyl- und Migrationspolitik sowie konkreter Praktiken der regionalen Friedensarbeit im deutschsprachigen Raum wird deutlich: Eine neue Friedensethik ist nötig und möglich.

Josef Mautner, geb. 1955, ist Literaturwissenschaftler und Theologe und seit vielen Jahren in der Flüchtlings- und Menschenrechtsarbeit engagiert.

https://josefmautner.at/

veröffentlicht in Talktogether Nr. 90 /2024