Crash-Kurs Krise: Wie die Finanzmärkte funktionieren
Bevor das Virus SARS-CoV-2 die Nachrichten der Welt beherrschte, stritten Ökonomen darüber, wann die nächste Finanzkrise kommen würde und was ihr Auslöser sein würde. Alle waren sich jedoch darin einig, dass eine neue Krise kommen würde, denn das Virus war nur Auslöser für eine Krise, für die bereits alle Zutaten vorbereitet waren: massive Überproduktion und Überkapazitäten, Rückgang von Produktion und Investitionen sowie eine steigende Verschuldung, verschärft durch verschiedene Spekulationsblasen. Nach dem Lockdown im März stürzten die Börsenkurse ab. Doch vier Monate später verzeichnet die Börse neue Höhenflüge. Wie kann es sein, dass die Börsenkurse steigen, obwohl die Wirtschaftsleistung einbricht? Diese und andere Fragen behandeln Antonella Muzzupappa und Stephan Kaufmann in ihrem Buch.
Die Stufenleiter der Spekulation
Spekulationen sind Geschäfte, die auf Erwartungen in die Zukunft beruhen. Dass diese nicht erst an der Börse beginnen, sondern bereits in der Realwirtschaft, zeigen die Autoren am Beispiel eines fiktiven Unternehmens auf. Daraufhin beschäftigen sie sich mit dem Kredit, den das Unternehmen braucht, um sein Geschäft in der Konkurrenz zu anderen zu betreiben, und damit, wie dieser alle Akteure abhängiger voneinander macht. Im dritten Kapitel wird die Geldschöpfung durch die Banken dargelegt, und schließlich behandelt Kapitel vier die Finanzmärkte. Danach wird das Verhältnis der Finanzsphäre zur Realwirtschaft behandelt, und es wird aufgezeigt, dass die Gegenüberstellung von der "guten Realwirtschaft" und einem aufgeblähten Finanzsektor zu kurz greift. Der zweite Teil widmet sich der Erklärung, wie Krisen entstehen, wobei vier Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit dargestellt werden: die Internetblase 2000, die US-Hypothekenkrise 2007 und die Griechenlandkrise 2009, hinzu kommt aus aktuellem Anlass die sogenannte Corona-Krise. In kritischen Anmerkungen am Ende einiger Kapitel werden populäre Erklärungsansätze in Frage gestellt, welche die äußeren Umstände, eine falsche Politik oder einzelne Aspekte wie den Zins für die Krisen verantwortlich machen.
Realwirtschaft versus Finanzsektor?
Nur Investitionen in die "Realwirtschaft" ermöglichen kapitalistisches Wachstum, weil nur Arbeit neue Werte erschaffen kann. Die Arbeitskräfte sind somit das Mittel, mit dem Kapitalisten ihre Gewinne machen. Menschen, die kein Eigentum besitzen, sind auf die Lohnarbeit angewiesen, haben jedoch keinen Anspruch auf den von ihnen produzierten Mehrwert. Um sich gegenüber der Konkurrenz zu behaupten, versucht jeder Kapitalist, nicht nur die billigsten Rohstoffe zu bekommen, sondern auch die Löhne so niedrig wie möglich zu halten. Zusätzlich versucht er für den bezahlten Lohn eine höhere Leistung zu erhalten, etwa durch die Optimierung der Arbeitsabläufe, die Einführung neuer Maschinen oder die Anwendung neuer Technologien.
Jedes Unternehmen versucht, so viel abzusetzen wie möglich und idealerweise den ganzen Markt zu erobern. Welche Fabrik besser und billiger produziert und sich gegenüber der Konkurrenz behauptet, weiß man aber erst, wenn alle ihre Produkte auf den Markt werfen. Um die Profite nicht zu gefährden, darf die Kaufkraft der Menschen nie über ein gewisses Maß hinauswachsen. Das hat zur Folge, dass mehr produziert wird, als es kaufkräftige Menschen gibt. Wegen dieser Überproduktion wird es immer schwieriger, mit Investitionen in die "Realwirtschaft" die von den Finanzmärkten geforderten Profite zu machen. Somit steht das System auf einem prekären Fundament.
Was machen Kapitalisten mit dem Geldkapital, das sich nicht verwerten lässt? Um trotzdem Profite zu machen, investieren sie statt in die Güterproduktion zunehmend ins "Finanzgeschäft". Beim Finanzmarkt handelt es sich um einen Markt, auf dem ein besonderes Gut gehandelt wird: Geld, oder genauer, Kapital. Die Unternehmen holen es sich, indem sie Kredite aufnehmen oder Aktien und Anleihen ausgeben. So tritt der Finanzmarkt dem Rest der Wirtschaft als Gläubiger gegenüber, der Unternehmen und Staaten nach deren Kreditwürdigkeit sortiert. Gleichzeitig vollziehen die Produkte des Finanzsektors an der Börse eigene Bewegungen.
Im Kapitalismus ist die Zukunft schon verpfändet
Der Finanzmarkt ist die Heimat der Börsianer, die mit Anleihen, Aktien, Derivaten und sonstigen Versprechen auf künftigen Reichtum ihre Geschäfte machen. Die Preise von Aktien und Anleihen basieren auf Erwartungen: Erwarten viele Anleger, dass ein Aktienkurs steigt, dann steigt er wirklich - die Erwartung wird Realität. Steigende Kurse machen die Anleger real reicher, sie können ihre Papiere zu höheren Preisen verkaufen und neue Papiere erwerben. Der Börse geht das Geld nie aus, es gibt keine Grenze, die den Kursanstieg beschränkt. Wird jedoch auf Crash spekuliert, sinken die Kurse und Vermögen werden vernichtet. Zeigt nun die Tatsache, dass Wertpapiere an der Börse mehr wert sind als die Wirtschaftsleistung, dass das Finanzkapital sich von der Realwirtschaft entkoppelt hat?
Die Märkte werden mit steigendem Spekulationsgrad - zum Beispiel bei Derivaten - scheinbar immer unabhängiger von der Realwirtschaft und entwickeln ein Eigenleben. Diese Entkoppelung hat aber eine Grenze, auch wenn diese äußerst biegsam ist. Für die Finanzmärkte besteht die Funktion der Realwirtschaft darin, dass sie jenes Wachstum verspricht, auf das sie spekulieren. Das bedeutet, dass die Realwirtschaft irgendwann liefern muss. Somit hat selbst die wüsteste Spekulation die Realwirtschaft als Grundlage und bezieht sich auf sie.
Der finanzielle Reichtum besteht heute vor allem aus Zahlungsansprüchen, aus den Schulden anderer. Es wird auf zukünftiges Wachstum spekuliert, das niemals enden soll. Als Wert gilt nicht das, was produziert worden ist, sondern das, was noch produziert werden soll. Diese Vermögenswerte basieren aber darauf, dass sie per Zins, Dividende oder Miete bedient werden. Geschieht dies nicht oder kommen daran Zweifel auf, schwinden diese Werte, sei es bei US-Hypothekenpapieren, Griechenland-Anleihen oder Häusern in bester Innenstadtlage.
Die Idee, Finanzgeschäfte widersprächen dem "eigentlichen" Zweck des Kapitalismus - nämlich der Produktion von Gütern und Arbeitsplätzen -, beruht auf einer idealisierten Vorstellung von der Marktwirtschaft. Die "Realwirtschaft" hat keinen anderen Zweck als die Finanzwirtschaft, nämlich Profite zu erzielen, die so hoch wie möglich sein sollten. Nur zu diesem Zweck nimmt die Realwirtschaft Kredite auf und gibt Aktien aus. Somit ist das Finanzkapital nicht der alleinige Verursacher von Lohndruck, Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und Ungleichheit, auch wenn es - genauso wie die Realwirtschaft - davon profitiert. Eine steigende Arbeitslosigkeit zeigt nur, dass viele Arbeitsplätze zur Erzeugung von Profiten nicht taugen und daher abgebaut werden.
Im Kapitalismus ist Reichtum verbunden mit dem permanenten Zwang, ihn zu vermehren. Davon profitieren die Eigentümer, während der ärmere Teil der Bevölkerung dafür haftet, dass die Ansprüche von Unternehmen und Anlegern aufgehen. Sie müssen ihren Arbeitgebern Gewinn einbringen, den Grundeigentümern die Miete und ihren Regierungen die Steuern. Geht die Rechnung nicht auf, sind sie es, die die Last tragen müssen. Aus dieser Sicht ist es tatsächlich beunruhigend, wenn die Welt zu viele Schulden hat, da dies bedeutet, dass global zu viele Finanzvermögen mit dem Anspruch auf Verwertung existieren.
Krisen sind kein Unfall
Die herkömmliche Volkswirtschaftslehre beschreibt den kapitalistischen Wirtschaftskreislauf als Mittel, um mit knappen Ressourcen Produkte herstellen, um damit die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Mensch kann jedoch noch so viele Bedürfnisse haben; wenn er kein Geld hat, bleibt ihm die Warenwelt verschlossen. Hätte die Wirtschaft das Ziel, die Menschen zufriedenzustellen, müssten Produktion und Profite auch nicht ins Unendliche steigen. Der Lockdown infolge der Corona-Krise zeigte uns ja, dass die notwendigen Güter weiter zur Verfügung gestellt werden konnten. Doch der Zweck des Kapitalismus ist eben nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die Erwirtschaftung von Profit, und dieser Zweck wurde durch den Lockdown unterbrochen.
Die Welt der Spekulation ist heute viel größer als die Sphäre, in der wirkliche Produkte und Dienstleistungen hergestellt werden. Auf dieses Auseinanderdriften bezieht sich die Kritik am Finanzkapital. Es wird darüber geklagt, dass der Finanzsektor sich von der Realwirtschaft entkoppelt habe, anstatt ihr zu dienen. "Real" sind an der Realwirtschaft jedoch nur ihre physischen Produkte und Dienstleistungen, nicht ihre kapitalistische Substanz - ihr Wert. Verkaufen sich die Güter nicht, sinkt nicht nur ihr Wert, sondern auch jener der Produktionsmittel. Der Wert der Maschinen, Autos und Fabriken hängt davon ab, ob sie als Mittel zur Erzeugung von Profit geeignet sind.
Auch ist der Staat kein Gegenspieler des Finanzkapitals, sondern dessen Betreuer. Weil er sich aus Steuern und Abgaben finanziert, muss er Rücksicht auf die Bedürfnisse der Geldanleger nehmen. Armut kann nur bekämpft werden, solange der Standort nicht an Attraktivität für Investoren verliert. Der Schutz von Beschäftigten oder der Umwelt bleibt deshalb immer beschränkt, weil er die Kalkulation der Unternehmen zwar beeinflussen, aber nicht durchkreuzen darf.
Viele Krisenerklärungen gründen auf dem Argument, dass Akteure in Wirtschaft oder Politik etwas falsch gemacht hätten. Wirtschaftskrisen entspringen jedoch der Logik des Wirtschaftssystems selbst und lassen sich nicht durch Gesetze, Regulierungen oder staatliche Interventionen verhindern. Kapitalistische Krisen entstehen nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss. Nicht Kriege, Klimawandel, Hungersnöte und Epidemien werden vom Kapital als Krisen betrachtet, sondern wenn die Profitmaximierung ins Stocken gerät. Eine Krise wirkt sich negativ auf Banken und Unternehmen aus, die Verluste machen, und vor allem auf die Menschen, die Arbeit und Wohnungen verlieren. Für das System als Ganzes dagegen sind sie eine Bereinigung. Wenn alles entwertet und zerstört wird, was keinen Profit einbringt, kann das Spiel wieder von vorne beginnen
Wirtschaftlich potente Staaten können es sich leisten, ihr Wirtschaftssystem mit öffentlichen Mitteln zu retten. Damit kann eine Krise zwar abgemildert, nicht aber das ihr zugrunde liegende Problem gelöst werden. Das nachlassende Wirtschaftswachstum befeuert zudem den Kampf der ökonomischen Weltmächte untereinander. Auch stellt sich die Frage, wer am Ende für die Milliarden an staatlichen Krediten haften wird, die für die Rettung des kapitalistischen Wirtschaftskreislaufes inklusive seiner Finanzsphäre eingesetzt werden. Kredite sind vorweggenommener Reichtum, der von der arbeitenden Bevölkerung erst produziert werden muss - und das zu möglichst niedrigen Löhnen. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Schulden werden der Gesellschaft aufgebürdet, um die Privatwirtschaft inklusive Finanzsektor über Wasser zu halten.
Fazit
Profite, anständige Löhne, keine Krisen und Schutz der Umwelt - wer hätte daran etwas auszusetzen? Leider kann der Kapitalismus das nicht liefern. Solange der Staat seine ökonomische Basis nach den Gesetzen von Markt, Profit und Wachstum organisiert, muss er sich diesen auch beugen. Dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist jedoch nicht gott- oder naturgegeben, sondern eine Konstellation, die sich historisch entwickelt hat. Bei entsprechenden Machtverhältnissen kann es, zeigen sich die Autoren überzeugt, durch eine andere - hoffentlich weniger bornierte - Logik ersetzt werden.
Das Buch ist geeignet für alle, die sich bisher nicht an das Thema herangewagt haben oder sich nicht mit den herkömmlichen, in den Medien verbreiteten Erklärungen zufriedengeben wollen. Die Autoren liefern keine ökonomischen oder politischen Vorschläge, wie Krisen vermieden oder bewältigt werden können, sondern bieten eine kurze, anschauliche und leicht verständliche Einführung in die grundlegende Funktionsweise der Finanzmärkte und des ihnen zugrunde liegenden Wirtschaftssystems.
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- Stephan Kaufmann und Antonella Muzzupappa: Crash Kurs Krise. Wie die Finanzmärkte funktionieren. Eine kritische Einführung. Bertz & Fischer, Berlin, 2020
veröffentlicht in Talktogether Nr. 74 / 2020
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