Rassismus, Sexismus und Diskriminierung – ewige Konflikte oder Symptome der Klassengesellschaft?
Auf der einen Seite erhalten Debatten über Rassismus, Sexismus und andere Formen von Diskriminierung viel öffentliche Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem rechten Rassismus zu tun, der alle ausschließen will, die eine andere Herkunft oder Lebensweise haben, die anders aussehen oder anders denken. Welche Rolle spielen Rassismus und Diskriminierung in der kapitalistischen Klassengesellschaft, was haben sie mit der alltäglichen Ausbeutung zu tun?
"Sklaverei kommt nicht von Rassismus, Rassismus kommt von Sklaverei." Eric Eustace Williams
Die Wurzeln des Rassismus liegen in Kolonialismus und Sklaverei. Europäische Mächte eroberten große Teile der Welt, nahmen den Menschen ihr Land weg und zwangen sie, in Bergwerken oder auf Plantagen zu arbeiten. Die natürlichen Ressourcen dieser Länder wurden gnadenlos ausgebeutet, ohne Rücksicht auf Menschen und Natur. Als man in Amerika mehr Arbeitskräfte benötigte, hat man afrikanische Menschen gefangen, über den Atlantik verschifft und als Sklav*innen verkauft. Um die Ausbeutung, Versklavung und Ermordung so vieler Menschen zu rechtfertigen, wurde die Ideologie der Ungleichheit zwischen den Menschen erfunden.
Der in den Kolonien geplünderte Reichtum floss zurück ins Mutterland und verwandelte sich dort in Kapital. Aber auch in Europa wurde die Landbevölkerung enteignet und von der Not in die Fabriken getrieben. Zu Beginn der Industrialisierung lebte das europäische Proletariat unter ähnlich elenden Verhältnissen wie die Kolonialisierten. So wie der Rassismus zur Rechtfertigung der kolonialen Ausbeutung diente, wurde er auch innerhalb Europas als Herrschaftsinstrument eingesetzt. Im England des 19. Jahrhunderts, als viele Arbeiter*innen aus Irland einwanderten, nutzte die herrschende Klasse die Konkurrenz unter den Ausgebeuteten aus. Um sie zu spalten und die englische Arbeiterklasse ideologisch an sich zu binden, heizte die britische Bourgeoisie Vorurteile gegen Menschen aus Irland an.
Die Geschichte des Rassismus zeigt aber, dass dieser nicht immer im Auftrag der ökonomisch herrschenden Klassen propagiert wurde. Der Antisemitismus war eine kleinbürgerliche Ideologie, die sich in Wien in den 1880er Jahren ausgehend von den Handwerksverbänden ausbreitete. Antijüdischer und antitschechischer Rassismus dienten Karl Lueger als Instrumente, um Wählerstimmen zu generieren. Obwohl der Kaiser vier Mal versuchte, seine Bestellung zu verhindern, hatte Lueger von 1897 bis 1910 das Amt des Wiener Oberbürgermeisters inne. Ihre radikalste und brutalste Fortsetzung fand die antisemitische Ideologie im Nationalsozialismus, der ebenfalls eine kleinbürgerliche Bewegung war, die nicht allein aus den ökonomischen Interessen des Besitzbürgertums erklärt werden kann.
"Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen
Menschen." Max Frisch
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg spielte der Rassismus keine Rolle. Der Wirtschaftsaufschwung brachte einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften mit sich, und die österreichische Industrie wollte – wie in Deutschland, der Schweiz und Frankreich – Arbeitskräfte aus wirtschaftlich schwächeren Regionen Europas anwerben. Arbeiterkammer und ÖGB waren dagegen, weil sie befürchteten, dass diese Menschen als billige Arbeitskräfte zum Lohndumping eingesetzt werden könnten. 1961 einigte sich die Wirtschaftskammer mit den Gewerkschaften im so genannten "Raab-Olah-Abkommen", und in der Folge wurden mit der Türkei und mit Jugoslawien zwischenstaatliche Abkommen abgeschlossen sowie Anwerbestellen in Istanbul und Belgrad eingerichtet. Auf diese Weise kamen bis 1975 ca. 250.000 Menschen vor allem aus der Türkei und Jugoslawien nach Österreich. Die Idee dahinter war das Rotationsprinzip: Wenn wir die Arbeitskräfte nicht mehr brauchen, werden die Bewilligungen nicht mehr verlängert und die Leute kehren zurück. Auch die Überlegungen der angeworbenen Personen waren meist ähnlich kurzfristig. Doch die Rechnung ging nicht auf: Die Leute sind dageblieben und haben ihre Familien nachgeholt.
Der Rassismus hat jedoch überlebt, ebenso wie die Nazis überlebt haben. Mit der Rückkehr der Krisen in den 1980er Jahren bekam er neuen Aufschwung in Form von Fremdenfeindlichkeit. Die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt führte zur Debatte über Integration und Parallelgesellschaften. Statt rassistischer wurden aber zunehmend kulturelle Argumente gegen die Zugewanderten ins Feld geführt. Rechte und rechtsradikale Kräfte schreien immer lauter nach einer restriktiveren Migrations- und Asylpolitik und erweisen sich geschickt darin, mit ihren hetzerischen Reden die Unzufriedenheit und Ängste vieler Menschen zu kanalisieren und ihre angestaute Wut auf bestimmte Gruppen zu lenken.
Im Jahr 1993 veröffentlichte Samuel Huntington, früherer Berater im US-Außenministerium, einen Aufsatz mit dem Titel "Kampf der Kulturen?" Darin behauptete er, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges vor einem Konflikt zwischen den Kulturen stehe. Die Entstehung der Islamfeindlichkeit als neuer Spielart des Rassismus intensivierte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Twin Towers von New York und dem darauffolgenden Krieg gegen die Taliban in Afghanistan.
Die Geschichte seit der Entstehung des Rassismus zeigt uns, dass dieser in unterschiedlichen Gewändern auftritt und vielfältige Wandlungen durchlaufen hat. Er kann sich gegen Menschen anderer Hautfarbe, Menschen fremder Herkunft oder Menschen aus anderen Kulturen richten. Er kann sich gegen Minderheiten oder auch gegen die Mehrheit im eigenen Land richten (Kolonialismus, Apartheid). Das sollte uns aber nicht daran hindern, sein Wesen zu erkennen, nämlich die Abwertung, Diskriminierung und Unterdrückung bis hin zur Vertreibung und Vernichtung von Menschen, die als schwächer oder nicht zugehörig angesehen werden. Er ist eine Ideologie, die den Herrschenden ermöglicht, ihre Stellung im Ausbeutungsprozess zu verschleiern und den Zusammenschluss der Ausgebeuteten zu verhindern.Ist der Rassismus nur ein Nebenwiderspruch?
Für Marx ist die bürgerliche Gesellschaft gekennzeichnet vom zentralen Widerspruch, dass sich eine herrschende Gruppe den gesellschaftlich erzeugten Reichtum privat aneignet. Ist der Rassismus also nur ein Nebenwiderspruch im zentralen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit?
In den 1960er und 1970er Jahren formierten sich Bewegungen gegen Frauenunterdrückung, Rassismus und Homophobie, welche die eigene Identität in den Mittelpunkt der politischen Mobilisierung stellten. Sie verwiesen auf ihre Diskriminierungserfahrungen und fokussierten sich auf die Selbstorganisation der betroffenen Gruppen, da sie sich von den weißen Männern übergangen fühlten, die in Gewerkschaften, sozialistischen Parteien und linken Gruppen den Ton angaben und dem Kampf gegen Sexismus, Rassismus und andere Diskriminierungen eine untergeordnete Bedeutung zumaßen.
Ein Beispiel für den Rassismus und die Frauenfeindlichkeit, die in manchen Arbeiterorganisationen herrschten, ist der Grunwick-Streik 1976-1978 in London. Die vorwiegend aus südasiatischen Frauen bestehende Belegschaft des Filmlaboratoriums legte wegen überlanger Arbeitszeiten, niedriger Löhne und rassistischer Beleidigungen die Arbeit nieder. Weil ihr Streik von der rechten Gewerkschaft NAFF nicht unterstützt wurde, war ihre wichtigste Forderung die Anerkennung ihrer eigenen Gewerkschaft APEX. Auf der anderen Seite erfuhren die Arbeiter*innen viel Solidarität, unter anderem von den Hafenarbeiter*innen und den Angestellten der Post, die sich weigerten, die Post für Grunwick auszuliefern. Die Polizei ging äußerst gewalttätig gegen die Streikenden vor und verhaftete 500 Personen. Die Haltung der mächtigen Gewerkschaft NAFF zeigt deutlich, wie sehr diese mit ihrem Rassismus den Kapitalismus stützte.
Gemeinsam für die Befreiung
Es ist wichtig, die persönlichen Erfahrungen der von Rassismus und Ausgrenzung Betroffenen wahrzunehmen, Alltagsrassismus und strukturelle Diskriminierungen zu bekämpfen und unser eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig ist klar, dass wir strukturelle Probleme nicht nur auf individueller Ebene lösen können, indem wir uns korrekt verhalten und eine korrekte Sprache verwenden. Zudem stellt sich die Frage, ob wir uns überhaupt mit einer Gleichstellung innerhalb der bestehenden Verhältnisse begnügen wollen. Rassismus, Sexismus, Homophobie, Trans- oder Behindertenfeindlichkeit gedeihen schließlich alle auf dem Boden der Klassengesellschaft. Eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der täglichen Arbeit von Proletarier*innen auf der ganzen Welt beruht, wird immer Formen der Spaltung und Herabsetzung von Menschen hervorbringen. Somit stehen wir vor der Herausforderung, gemeinsame Strategien zu entwickeln, um die verschiedenen emanzipatorischen Kämpfe zu verbinden und solidarische Verbindungen zwischen allen Menschen zu schaffen, die sich auf der ganzen Welt gegen Unterdrückung und Ungleichheit zu Wehr setzen.
Veröffentlicht in Talktogether Nr. 85/2023