Ngugi Wa Thiong'o: Ihr beißt zweimal zu und ich beiße viermal

07.07.2010

"Wo immer es in der Gesellschaft Klassen gibt, gibt es zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen Konflikte in der Betrachtung der Welt. In einer Welt, die aufgeteilt ist in eine Minderheit von Nationen, die über die Mehrheit der Nationen regiert, muss die Betrachtungsweise unterschiedlich sein. Aber auch innerhalb der Nationen gibt es den Widerspruch zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Ein gegenseitiger Austausch kann nur auf Gleichheit beruhen." (Interview mit Michael Alexander Pozo, Mai 2004)

"Wir haben Augen, aber wir sehen nicht.
Wir haben Ohren, aber wir hören nicht. Wir können
lesen, aber wir verstehen nicht, was wir lesen."

Für zahlreiche afrikanische Staaten jährt sich der Tag der Unabhängigkeitserklärung heuer zum 45. Mal. Diesem Ereignis ging ein zäher politischer Kampf voraus. Die Kolonialherrschaft hat die kolonisierten Länder nicht nur politisch und wirtschaftlich gehemmt, sondern auch ihre eigenständige kulturelle Weiterentwicklung behindert. Die machtgierige Herrschaft hat die Völker von ihrer Sprache und ihrer Kultur entwurzelt, hinderte die Menschen, ihre eigenen Sprachen zu sprechen und zwang ihnen ihre Sprache und Kultur auf. Die Kolonialherren beuteten die Menschen aus, wollten ihre Kultur und Sprache aber nicht berühren, die sie in ihrer Arroganz als minderwertig betrachteten. Viele Freiheitskämpfer kämpften für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit, doch nur wenige fragten, warum sie ihre eigenen Sprachen und Kulturen verleugnen und denen der Kolonialherren unterordneten.

Einer der erbittertsten Gegner der neokolonialen Ausbeutung und ein unbeugsamer Kämpfer für die Wiedergewinnung der vergessenen und verdrängten Sprachen und Kulturen ist der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o. Seine Waffe ist das Wort, das er einsetzt, um das verlorene Selbstbewusstsein der afrikanischen Völker zurückzuerobern. In seinen Werken erforscht Ngugi die menschlichen Beziehungen und ihre Qualität. Wie kaum ein anderer vertritt er unbestechlich die Arbeiter und Bauern Kenias, oder besser gesagt, die ausgebeuteten Massen Afrikas. Auf der Suche nach einer eigenständigen kulturellen Identität beschränkt sich Ngugi nicht auf kulturellen Nationalismus, sondern ist auf der Suche nach einer politischen Strategie, um den globalen Monopolkapitalismus zu brechen, mit dem die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents untrennbar verbunden ist.

Ngugi wa Thiong'o wurde 1938 in Kamiriithu im Hochland Kenias geboren. Sein Vater war ein Bauer, der durch die Politik der britischen Kolonialherren von seinem Land in die Slums getrieben worden war. Ngugis Familie war in die "Mau Mau-Freiheitsbewegung" involviert: Sein älterer Bruder hatte sich der Bewegung angeschlossen, sein Stiefbruder wurde getötet und seine Mutter gefoltert. Ngugi besuchte eine Missionsschule, später studierte er Englisch an der renommierten Makere Universität in Kampala, Uganda. Als Schriftsteller machte er 1964 mit Weep not Child sein Debüt in England, wo er sein Studium fortsetzte. Es war der erste Roman auf Englisch, der von einem ostafrikanischen Autor veröffentlicht wurde. In Form eines Bildungsromans erzählt er den Konflikt eines jungen Mannes zwischen seinen idealistischen Träumen und der gewaltsamen Realität der kolonialen Ausbeutung.

In den 1960er Jahren arbeitete Ngugi als Reporter und als Lektor an verschiedenen Universitäten in Kenia, Uganda und den USA. Ngugi kritisierte das Bildungssystem in Kenia scharf, das auch nach der formellen Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft geprägt war: "Wenn es notwendig ist, die historische Kontinuität einer einzigen Kultur zu studieren, warum kann das nicht die afrikanische sein? Warum kann nicht die afrikanische Literatur im Mittelpunkt stehen, so dass wir andere Literaturen in Beziehung zu ihr sehen?" fragte er 1968 in einem Artikel über die Notwendigkeit der Anerkennung der Tradition der mündlichen Dichtkunst in Afrika, den er mit Taban lo Liyong und Henry Owuor-Anyumba schrieb.

1976 war Ngugi Vorsitzender des Kulturkomitees seiner Hei­matgemeinde, eines kommunalen Kollektivs, das ein Volks­theater leitete. Die Regierung verbot die Aufführungen des Theaters und im Dezember 1977 ordnete der damalige Vizepräsident Arap Moy die Verhaftung Ngugis an. Er wurde ohne Gerichtsverfahren in das Hochsicherheitsge­fängnis "Kamiti" geliefert, wo er ein Jahr verbrachte. Ursache für seine Verhaftung war die unzensurierte politische Botschaft seines populären Stückes Ngaahika Ndeenda (Ich heirate, wann ich will, 1977), das er mit Ngugi wa Mirii geschrieben hatte. Auch mit seinem 1978 erschienenem Roman Petals of Blood (Verbrannte Blüten), in dem er die Fortsetzung der kolonialen Ausbeutung und Korruption durch das neokolonialistische Regime und die Kompradoren-Bourgeoisie im jetzt unabhängigen Kenia kritisierte, hatte er den Grimm der herr­schenden Klasse auf sich gezogen. Darin kommt er zu dem Schluss, dass der Unanhängigkeitskampf gescheitert ist und nur eine neue Elite geschaffen und die weißen Unterdrücker durch ihre schwarzen Nachfolger ersetzt hat. Der Roman schlug ein wie eine Bombe und war in Nairobi bald nach dem Erscheinen ausverkauft.

"Große Liebe fand ich dort, bei den Frauen und
Kindern. Eine Bohne fiel auf die Erde,
und wir teilten sie untereinander"
(Lied der Mau-Mau Bewegung)

Nach seiner Freilassung durfte er nicht mehr an die Universität zurückkehren. 1980 veröffentlichte er Caitaani muthara-Ini(Der gekreuzigte Teufel), den ersten modernen Roman, der in der einheimischen Sprache Gikuyu veröffentlich wurde. Geschrieben hat ihn Ngugi heimlich im Gefängnis auf Toilettenpapier. Erst kurz vor seiner Entlassung wurde das Manuskript entdeckt und beschlagnahmt, glücklicherweise aber wieder zurückgegeben. Die Publikation dieses Romans war ein nicht nur literarisches Ereignis. Die Protagonistin Wariinga ist eine junge Frau vom Land, die in Nairobi der Willkür und sexuellen Ausbeutung ihrer Vorgesetzten ausgesetzt ist. Aufgrund ihrer verzweifelten Situation will sie Nairobi verlassen und in ihrem Heimatdorf Ilmorog Zuflucht suchen. Als sie auf ein Matatu-Taxi wartet, erhält sie ein mysteriöses Flugblatt, das zu einem Festival der Diebe und Räuber einlädt. Schließlich landet Wariinga mit ihren Begleitern aus dem Sammeltaxi bei diesem Wettkampf der Diebe und Räuber. Doch bei den Teilnehmern handelt es sich nicht um kleine Gauner, sondern um lokale und ausländische Geschäftsleute, die um die Wette damit prahlen, wie sie reich geworden sind. Durch diese Feier der Korruption in all ihren Formen wird Wariinga zu der Einsicht gebracht, dass ihr bisheriges Leben nichts anderes war als die Duldung der Korruption ...

Ngugis Gefängnistagebuch Detained (Kaltgestellt) erschien 1981 in Englisch. Aufgrund der ständigen Verfolgung verließ Ngugi Kenia 1982 und lebte im freiwilligen Exil in London. In seiner Abhandlung Decolonising the Mind (1986) rief er die afrikanischen Autoren auf, in ihren Heimatsprachen zu schreiben, um von den Volksmassen verstanden zu werden. Ngugi argumentierte, dass Literatur, die in einer kolonialen Sprache geschrieben ist, keine afrikanische Literatur sei, und dass afrikanische Schriftsteller die Aufgabe hätten, der afrikanischen Literatur ihre eigene Geschichte und Grammatik zu geben.

"Ich werde keine Waren herstellen,
damit Er-der-erntet-wo-er-nie-gesät-hat
davon reich wird
und ich mit leeren Händen ausgehe.
Ich weigere mich, der Kochtopf zu sein,
der immer kocht und nie isst ..."

Matigari, eines seiner bedeutendsten Werke, wurde 1987 veröffentlicht. Die Geschichte ist auf einem bekannten Volksmärchen aufgebaut. In dieser satirischen Fabel taucht plötzlich ein Freiheitskämpfer der "Mau-Mau-Bewegung" aus den Wäldern auf. Viele Jahre stand Matigari im Krieg gegen die weißen Kolonialisten und ihre schwarzen Handlanger. Jetzt will der Kämpfer, der dem Tod entkam, nach Hause zu seiner Familie. Zu spät erkennt er, dass der Freiheitskampf vergebens war: Zu Hause ist kein Platz für ein aufrichtiges Leben, dort herrschen die Erben derer, gegen die er einst kämpfte. Aber Matigari widersteht auch den neuen Machthabern. Seine Reden, seine Taten, vom Volksmund ausgeschmückt und überhöht, lassen ihn bald zur Legende werden, zu einer mystischen Figur. Eine Wiederkehr Christi? Ngugis Anspielungen auf das Evangelium sind nicht zufällig. Matigari trifft die schöne Guthera, eine Prostituierte, deren Vater von der Kolonialpolizei ermordet worden war und die ihren Körper verkaufen muss, um ihre Geschwister zu ernähren. Guthera und der verwahrloste Straßenjunge Muriuki folgen Matigari, der einst wie Jesus auf die Märkte und Plätze geht, um die Ärmsten, die Ausgestoßen, die Rechtlosen zu sammeln. Als die Stunde gekommen ist, entscheidet sich dieser schwarze Messias aber nicht für den Opfertod, sondern gräbt seine Waffen aus, die er damals im Dschungel zurückließ. Der Roman wurde eingeholt von der politischen Realität, die er beschreibt. Kurz nach dem Erscheinen des Buches verbreitete der kenianische Geheimdienst Meldungen, dass ein Mann namens Matigari für Wahrheit und Gerechtigkeit agitiere und die Behörden ordneten an, diesen Mann zu verhaften.

1992 erhielt Ngugi eine Professur für vergleichende Literatur an der Universität New York und zog in die USA, wo er bis heute lebt. Nach der Demokratisierung in Kenia besuchte er 2004 seine Heimat, die er geistig nie verlassen hatte, und beendete damit sein 20-jähriges Exil. Sein Vorbild hat mehrere moderne Schriftsteller in Kenia bewogen, Literatur in ihren Muttersprachen zu schreiben.


Ihr beißt zweimal zu und ich beiße viermal

Denn das Reich dieser Welt ist gleich einem Herrscher, der voraussah, dass der Tag kommen würde, an dem ihn die aufgebrachten Massen und ihre Freiheitskämpfer zwingen würden, ein gewisses Land zu verlassen. Er war sehr bekümmert und sann über Mittel und Wege nach, seine Güter, die er in jenem Land erworben hatte, zu bewahren; auch suchte er nach Möglichkeiten, wie er seine Herrschaft über die Eingeborenen aufrecht erhalten könnte.

Was soll ich tun, angesichts der Tatsache, dass diese Leute, über die ich von jeher geherrscht habe, mich jetzt von den Plantagen und Fabriken, die ich ihnen einst weggenommen habe, verjagen wollen? fragte er sich. Warte ich, bis sie auf mich schießen und mich aus dem Land hinausprügeln, so wird mir dieser Schandfleck stets anhaften - habe ich ihnen nicht über die unbesiegbare Macht meiner Panzer und Bomben erzählt? Habe ich nicht stets versucht, ihnen klarzumachen, dass die weiße Rasse niemals der schwarzen unterlegen sein wird? Sollten nun die Guerillas den Kampf gewinnen und den Schlüssel zum Land erobern, werde ich nie wieder in den Besitz dieser Plantagen und Industrieanlagen gelangen. Aller Tee, aller Reis, aller Kaffee, alle Baumwolle und Edelsteine, alle Hotels, Läden und Fabriken, alle Früchte ihres wertvollen Schweißes - all das und noch mehr, wird für mich auf immer verloren sein. Eines Tages werde ich dieses Land durch die Vordertür verlassen und in mein eigenes Land zurückkehren - nun weiß ich jedoch, was ich tun werde, damit ich zurückkommen und das Land durch die Hintertür wieder betreten kann, damit ich willkommen geheißen werde und tiefer reichende und fester gründende Wurzeln schlagen kann als je zuvor.

Er rief seine treuen Sklaven und Knechte zu sich. Er lehrte sie alle Ränke und Machenschaften dieser Welt, und insbesondere lehrte er sie, Raub und Diebstahl mit den süßesten Düften zu umhüllen, Gift in zuckrige Blätter zu verpacken und noch vieles mehr. Alles mit dem Ziel, durch Bestechung und durch Betonung der Stammes- und Religionsunterschiede Spaltung und Uneinigkeit zu säen. Nachdem er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, ließ er sie wissen, dass er demnächst nach Hause, in ein anderes Land, reisen würde.

Als sie hörten, dass ihr Herr und Meister sie verlassen wollte, zerrissen die treuen Sklaven und Knechte ihre Kleider, streuten sich Asche aufs Haupt, knieten nieder und schrieen:

"Warum gehst du fort von hier und lässt uns als arme Waisen zurück? Du weißt sehr wohl, dass wir in deinem Namen die Menschen verfolgt und viele Verbrechen begangen haben. Hast du nicht geschworen, dass du dieses Land niemals verlassen würdest? Wie kannst du uns nun auf Gnade und Ungnade den nationalistischen Freiheitskämpfern ausliefern?"

Und der Herr, ihr Meister, sprach zu ihnen:

"Ihr Kleingläubigen! Bekümmert eure Herzen nicht, denn ihr glaubt an den Gott, den ich euch einst verkündet habe; glaubt nun auch an mich, den Verkünder seines Willens. Ich kenne viele Mittel und Wege, um meine Wünsche in diesem Land erfüllt zu sehen. Wäre dem nicht so, so hätte ich es euch wissen lassen, damit ihr Zeit gehabt hättet zu fliehen oder euch Stricke zu besorgen, um euch zu erhängen, ehe die Patrioten Hand an euch gelegt hätten. Aber nun will ich euch Plätze bereiten, die euch zur Führerschaft befähigen werden; ich will den Brocken, die für euch von meinem Tische gefallen sind, noch ein weniges hinzufügen. Und nachdem ich gegangen bin, werde ich zurückkehren, und ich werde viel Geld und viele Banken mit mir bringen, dazu eine Vielzahl von Panzern, Gewehren, Bomben und Flugzeugen, und ich werde bei euch sein, und ihr bei mir, wir werden in beständiger Liebe beieinander wohnen und das Mahl miteinander halten - ich werde ausgewählte Gerichte zu mir nehmen, und ihr könnt euch die wertvollen Überreste aussuchen."

Und da der Herrscher auszog, um in sein Land heimzukehren, geschah es, dass er wiederum all seine Knechte zu sich rief, und er vertraute ihnen den Schlüssel des Landes an. Alsdann sprach er zu ihnen:

"Die patriotischen Freiheitskämpfer und die Masse des Volkes in diesem Land werden nun einer Täuschung unterliegen, denn ihr seid ebenso schwarz wie sie. Sie werden singen und sagen: 'Seht, unsere eigenen schwarzen Leute halten nun den Schlüssel zu unserem Land in Händen! Seht, unsere eigenen schwarzen Leute sitzen am Steuer! Für nichts anderes, als dass dies geschehen möge, haben wir gekämpft. Lasst uns die Waffen niederlegen, lasst uns singen und unsere schwarzen Herren loben und preisen'."

Dann vertraute er ihnen seinen Besitz und seine Güter an, damit sie sie wohl verwalten und vermehrten; und einem gab er fünfhunderttausend Shilling, dem anderen zweihunderttausend Shilling und dem dritten einhunderttausend Shilling, einem jeden nach seiner Tüchtigkeit, mit der er dem Herrn gedient, und nach seiner Treue, mit der er dem Glauben und den Vorstellungen des Herrn nachgefolgt war. Und so zog der Herrscher aus und verließ das Land durch die Vordertür.

Und der Knecht, der fünfhunderttausende Shilling erhalten hatte, zögerte nicht, er ging hin und kaufte zu einem niedrigen Preis bei den Bauern auf dem Land ein, dann verkaufte er die so erworbene Ware zu einem höheren Preis an die Arbeiter in der Stadt, auf diese Weise erbrachte sein Kapital einen Gewinn von fünfhunderttausend Shilling. Der, welcher zweihunderttausend Shilling erhalten hatte, tat desgleichen: Er kaufte billig bei den Herstellern ein und verkaufte teuer an die Verbraucher, und so erzielte er aus seinem Kapital einen Gewinn von zweihunderttausend Shilling.

Der aber, welcher nur einhunderttausend Shilling erhalten hatte, hielt sich selbst für klug. Er überdachte sein Leben und das Leben der Menschen im ganzen Land und auch das Leben des Herrschers, der eben in ein fremdes Land gezogen war. Und er sprach zu sich: dieser Herr und Meister hat stets damit geprahlt, dass er alleine dieses Land entwickelt habe, und zwar nur mit dem wenigen Geld, das er mitgebracht, und mit dem beständigen Ruf: Kapital! Kapital! Nun will ich sehen, ob dieses Kapital irgendetwas bringt, auch wenn es nicht mit dem Schweiß der Bauern und Arbeiter begossen wird, und wenn es nicht selbst hingeht und für wenig Geld den Schweiß der Bauern und Arbeiter aufkauft. Bringt es ohne mein Zutun etwas hervor, dann werde ich über alle Zweifel wissen, dass Geld allein ein Land entwickeln kann. Und so ging er hin und legte die einhunderttausend Shilling in eine Büchse, die er sorgfältig verschloss; dann hob er unter einem Bananenbaum ein Loch aus und begrub die Büchse dort.

Und ehe viele Tage vergangen waren, geschah es, dass der Herr zurückkehrte. Er betrat das Land durch die Hintertür und überprüfte, was aus seinem zurückgelassenen Besitz geworden war. Er rief seine Knechte zu sich, damit sie ihm Rechenschaft über die Güter und das Geld ablegten, das er einem jeden gegeben hatte.

Da trat der hervor, der die fünfhunderttausend Shilling erhalten hatte und sagte:

"Mein Herr und Meister, du hast mir ein Kapital von fünfhunderttausend Shilling anvertraut. Ich habe es verdoppelt".

Da war sein Herr wahrhaft erstaunt, und er rief aus:

"Hundert Prozent Gewinn? Phantastische Profitrate! Du hast wohlgetan, du guter und treuer Knecht. Du hast bewiesen, dass du über wenigem getreu sein kannst, nun will ich dich über vieles setzen. Gehe ein zu deines Herrn Freude und Wohlstand. Ich ernenne dich zum Direktor der Zweigstellen meiner Banken hier im Lande, und ich werde dich außerdem zum Direktor einer meiner Gesellschaften ernennen. Du wirst auch einige Aktien dieser Gesellschaften erhalten. Vom heutigen Tag an werde ich mein Gesicht nicht mehr allzu oft zeigen. Du sollst mein Gefolgsmann hier in deinem Lande sein."

Und der, der die zweihunderttausend Shilling erhalten hatte, trat hervor und sagte:

"Mein Herr und Meister, du hast mir zweihunderttausend Shilling anvertraut. Siehe, mit deinem Kapital habe ich weitere zweihunderttausend Shilling gewonnen".

Und der Herr sprach und sagte: "Großartig, einfach großartig diese steigende Profitrate! Ein sicheres Land für Investitionen. Du hast wohlgetan, du guter und getreuer Knecht. Du hast bewiesen, dass du über wenigem treu sein kannst, nun will ich dich über vieles setzen. Gehe ein zu deines Herrn Freude und Wohlstand. Ich werde dich zum Verkaufsdirektor der Zweigstellen meiner Versicherungsgesellschaften machen und außerdem zum Direktor der Niederlassungen meiner Industriebetriebe hier im Lande und vieler anderer Gesellschaften, die ich dir noch zeigen werde. Vom heutigen Tage an werde ich mein Gesicht verbergen. Ich werde mich hinter den Kulissen aufhalten - du aber stehe unter der Tür und am Fenster, so dass dein Gesicht stets allen sichtbar ist. Du sollst der Aufpasser über meine Investitionen in deinem Lande sein."

Und der, der die einhunderttausend Shilling erhalten hatte, trat hervor und sagte:

"Du Herr und Meister, Angehöriger der Weißen Rasse! Ich habe deine Machenschaften aufgedeckt! Ich habe deinen richtigen Namen erfahren. Imperialist ist dein Name, und du bist ein sehr grausamer Herrscher. Warum? Du erntest, wo du nicht gesät hast, du greifst nach Dingen, für die du keinen Tropfen Schweiß vergossen hast, du hast dir angemaßt, Güter zu verteilen, an deren Produktion du keinen Anteil hattest. Warum? Nur weil du über Kapital verfügst. Und so bin ich hingegangen und habe dein Geld in die Erde vergraben, um zu sehen, ob sich dein Geld ohne meinen Schweiß oder ohne den Schweiß eines anderen Mannes vermehren würde. Sieh, hier hast du deine einhunderttausend Shilling, genau so, wie du sie hiergelassen hast. Ich gebe dir dein Kapital zurück. Zähle es, und du wirst sehen, dass kein einziger Cent fehlt. Über eines aber habe ich mich am meisten verwundert - mein Schweiß verschaffte mir Nahrung zum Essen, Wasser zum Trinken und ein Dach über dem Kopf zum Schlafen. He! Nie wieder werde ich vor dem leblosen Gott Kapital niederknien! He! Ich werde nicht mehr länger Sklave sein! Meine Augen sind sehend geworden! Reichte ich heute all denen die Hand, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Herren ihres eigenen vergossenen Schweißes zu sein, dann wäre dem Reichtum, den wir für unser Volk und unser Land hervorbringen könnten, keine Grenzen mehr gesetzt!"

Der Herr aber schaute ihn mit schmerzerfülltem Herz und mit bitterem Blick an und sprach:

"Du böser, ungetreuer und fauler Knecht, Angehöriger einer aufrührerischen Sippe! Du hättest mein Geld zur Bank bringen müssen, oder es den Wechslern übergeben, so hätte ich bei meiner Rückkehr das Meine mit Zins zurückbekommen. Weißt du nicht, welche Schmerzen es mir bereitet, wenn ich erfahren muss, dass du mein Geld wie einen Leichnam vergraben hast? Wer hat dir das Geheimnis meines Namens verraten? Wer hat dir geraten, mir untreu zu werden, weil ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und weil ich nach Dingen greife, für die ich keinen Schweiß vergossen habe? Wer hat dir gesagt, dass Ernten und sich der Dinge zu bemächtigen keine schwere Arbeit sei? Nein! Ihr Schwarzen seid solcher aufrührerischen Gedanken nicht fähig! Nein! Ihr Schwarzen seid unfähig, euch Mittel und Wege auszudenken, wie ihr die Stricke, die euch an eure Herren binden, durchschneiden könntet. Deshalb müssen dich die Kommunisten verführt haben... Diese gefährlichen Gedanken können nur von der Partei der Arbeiter und Bauern stammen... Ja... dein Denken ist mit kommunistischen Ideen vergiftet... Kommunismus...

Du bist zu einer echten Bedrohung für den Frieden und die Stabilität geworden, die es einstmals in diesem Land für mich gab, und für meine hiesigen Vertreter, die Aufpasser über meinen Besitz... Du wirst so viel Feuer zu sehen bekommen, dass du meinen wahren Namen für immer vergessen wirst. Nehmt ihn fest, ehe er diese giftigen Gedanken den anderen Arbeitern und Bauern weitergibt und ihnen zeigt, dass die Macht ihrer organisierten Einheit stärker ist als alle meine Bomben und Panzerwagen.

Nehmt von ihm das wenige, das er hat, und verteilt es unter euch. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Das ist das höchste meiner Gebote. Worauf wartet ihr noch? Geht und ruft die Polizei und das Militär, dass sie diesen Mann festnehmen, der die kommunistische Kühnheit besessen hat, sich gegen die Sklaverei aufzulehnen. Werft ihn ins Gefängnis oder übergebt ihn der ewigen Finsternis, so wird die Ernte seiner Familie nur Zähneknirschen und Tränen sein.

Ausgezeichnet! Ihr habt gute Arbeit geleistet, Leute! Verfahrt ebenso mit allen anderen Rebellen. Schüchtert die Arbeiter ein, damit sie sich ducken und es nicht wagen werden zu streiken und höhere Löhne zu verlangen, oder gar zu den Waffen zu greifen, um die Ketten der Sklaverei zu sprengen.

Und was euch betrifft, so werde ich euch in der Öffentlichkeit nicht mehr Sklaven oder Knechte nennen. Ihr seid nun wahrhaft meine Freunde. Warum? Selbst nachdem ich euch die Schlüssel zu eurem eigenen Land zurückgegeben hatte, behieltet ihr meine Gebote bei und schütztet meinen Besitz und mehrtet ihn so, dass er eine höhere Gewinnrate abwarf als zu den Zeiten, da ich selbst die Schlüssel in der Hand hielt. Deshalb will ich euch nicht mehr Knechte nennen. Denn ein Knecht weiß nicht um die Gedanken und Absichten seines Herrn. Aber ich habe euch zu meinen Freunden gemacht, weil ihr über alle meine Pläne, die ich für dieses Land habe, Bescheid wisst, und so werde ich es auch in Zukunft halten. Von meinen Einnahmen werde ich euch etwas abgeben - es soll euch Stärkung und Ansporn sein, um denen das Genick zu brechen, die von den 'Massen' reden.

Lang lebe Frieden, Liebe und Einigkeit zwischen uns - zwischen mir und euch, meinen Vertretern hier im Lande! Was soll da Schlechtes daran sein? Ihr beißt zweimal zu und ich beiße viermal, so führen wir die leichtgläubigen Massen hinters Licht... Ein Hoch auf die Stabilität, die zum Fortschritt führt... Ein Hoch auf den Fortschritt, der zum Gewinn führt..."

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Der Roman (orig. Titel: Caitaani muthara-Ini), aus dem dieser Ausschnitt stammt, wurde 1980 in Kenia als erster Roman in der einheimischen Sprache Gikuyu veröffentlicht. Geschrieben hat ihn Ngȗgȋ heimlich im Gefängnis auf Toilettenpapier. Es war nicht seine erste Arbeit in Gikuyu, das war ein Theaterstück gemeinsam, welches er mit Ngȗgȋ wa Mirii und DorfbewohnerInnen im Kamiriithu Community Centre entwickelte hatte und das ihn geradewegs ins Gefängnis brachte. Ohne Verurteilung verbrachte er ein Jahr im Maximum Security Prison. 1981 erschien sein Gefängnistagebuch "Detained" (Kaltgestellt), in dem er über seine Erfahrungen dort berichtete. Aufgrund der politischen Verfolgung verließ er Kenia 1982.