Mutterrecht und Patriarchat

08.03.2018

1861 veröffentlichte Johann Jakob Bachofen mit "Mutterrecht" eines der umstrittensten Bücher des 19. Jahrhunderts. Darin erklärt der Schweizer Historiker und Anthropologe am Beispiel der griechischen Mythologie, dass ursprünglich nicht der Vater, sondern die Mutter das Oberhaupt der Familie war, da die Abstammung nur über sie gezählt wurde. Das Mutterrecht sei jedoch allmählich durch das Patriarchat gestürzt worden. Damit hat Bachofen als erster die wichtige Entdeckung gemacht, dass sich die Familie historisch entwickelt hat und die Herrschaft des Mannes nicht gottgegeben ist.

Gesellschaftliche Umbrüche im Spiegel von Mythologie und Religion

Bachofens Werk beginnt mit einem Bericht über die Lykier, ein kleines Volk im Südwesten Kleinasiens, über das der griechische Historiker Herodot erstaunt schreibt: "Sie benennen sich nach der Mutter und nicht nach dem Vater." Doch nicht die Schriften der antiken Geschichtsschreiber lieferten ihm die wichtigsten Beweise für seine Theorie, sondern die griechische Mythologie. Weil sich Bachofen so intensiv mit Mythen und Religionen beschäftigte, wurde seine Arbeit von vielen seiner Kollegen als unwissenschaftlich und spekulativ abgetan. Doch gerade diese Beschäftigung erlaubte ihm tiefere Einblicke in das Leben der Antike, als es mit einer auf Fakten ausgerichteten Wissenschaft möglich gewesen wäre.

Die Oresteia des Aischylos interpretiert Bachofen als einen Kampf zwischen dem untergehenden Mutterrecht und dem in der Heroenzeit aufkommenden Vaterrecht. Klytämnestra hatte ihren Gatten Agamemnon erschlagen, ihr Sohn Orestes rächt den Mord am Vater, indem er die Mutter tötet. Dafür wird er von den Erynnen, den dämonischen Schützerinnen des Mutterrechts, verfolgt. Orest versteht nicht, warum die Erynnen ihn bestrafen wollen, da die Mutter ihren Mann und seinen Vater umgebracht hat. Die Antwort ist schlagend: "Sie war dem Mann, den sie erschlug, nicht blutsverwandt."

Der Mord an einem nicht blutsverwandten Mann, selbst wenn er der Gatte der Mörderin ist, geht die Erynnen nichts an. Ihre Aufgabe ist allein die Verfolgung des Mordes unter Blutsverwandten, wobei der Muttermord das schwerste und ein unsühnbares Verbrechen ist. Doch Orest wird von Apollo verteidigt, der ihn durch sein Orakel zu dieser Tat aufgefordert hat, und Athene, die als Richterin aufgerufen wird, spricht ihn frei. Deshalb klagt der Chor der Erinnyen: "Oh neue Götter, altes Gesetz und uraltes Recht. Ihr reißt sie nieder, reißt sie fort aus meiner Hand." Die siegreichen "Götter neuen Stammes" sind Apoll und Athene, das alte Recht ist das Mutterrecht.

Das Gesellschaftssystem der Irokesen

Belege für Bachofens Erkenntnisse lieferten die Forschungen von Henry Lewis Morgan, der ursprünglich als Anwalt die im Staat New York lebenden Irokesen gegenüber der US-Regierung vertrat. Bei ihnen entdeckte er, dass sie ein ganz anderes Verwandtschaftssystem hatten als das ihm geläufige. In seinem 1877 erschienenen Buch "Ancient Society" (Die Urgesellschaft) schilderte er seine Beobachtungen. Bei den Irokesen ist ein Kind nur verwandt mit der Familie seiner Mutter, nicht aber mit der des Vaters, der einer anderen Gens angehört. Wichtigste männliche Bezugsperson eines Kindes ist in diesem System nicht der Vater, sondern der Bruder der Mutter. Wie Bachofen nahm Morgan ein allgemeines ursprüngliches Mutterecht an und war davon überzeugt, dass die Herausbildung des Privateigentums und der damit verbundene Übergang zum Patriarchat mit negativen Folgen für die soziale Stellung der Frau verbunden war.

Darüber hinaus entdeckte Morgan, dass die irokesischen Verwandtschaftsbezeichnungen, die ähnlich auch in Indien und in mehr oder weniger abgeänderter Form in Asien, Afrika und Australien gebräuchlich sind, den tatsächlichen Familienbeziehungen widersprachen. Die Erklärung fand Morgan auf den Sandwich-Inseln in Hawaii. Dort fand er eine Form der Familie vor, die genau den amerikanisch-indischen Bezeichnungen entsprach, eine Form von Gruppenehe - die Punaluafamilie -, in der mehrere Frauen mit mehreren Männern rechtlich, wenn auch nicht notwendig tatsächlich, verheiratet sind. Die Verwandtschaftsbezeichnungen der Hawaiianer stimmten jedoch nicht mit den tatsächlichen Familienbeziehungen überein und wiesen auf eine ältere, noch ursprünglichere Familienform hin. Daraus schloss Morgan, dass sich die Familie in dem Maße entwickelt, wie die Gesellschaft fortschreitet, die Verwandtschaftsbezeichnungen dagegen jedoch passiv sind und den tatsächlichen Veränderungen hinterherhinken.


Privateigentum und Patriarchat

Aufbauend auf den Forschungen von Bachofen und Morgan untersucht Friedrich Engels in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Familie und der der Produktions- und Besitzverhältnisse. Laut Engels haben weder große Männer, noch Könige oder Denker die Geschichte gemacht, vielmehr werden geschichtliche Veränderungen durch ökonomische Notwendigkeiten und gegensätzliche Interessen zwischen den Menschen angetrieben. Die ökonomische Struktur der Gesellschaft bildet die reale Grundlage, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Anschauungen jedes geschichtlichen Zeitabschnittes zu erklären sind.

Bevor sich der Staat, wie wir ihn heute kennen, herausgebildet hat, war die Gesellschaft vollständig in Gentes (1) - in auf Blutsverwandtschaft begründeten Verbänden - organisiert. In dieser Gesellschaftsform sind Grund und Boden gemeinschaftliches Eigentum der Gens, das sie gemeinsam bearbeitet. Ein gesondertes Erbrecht gibt es nicht, da das Eigentum allen Mitgliedern der Gens gehört. Mit wachsender Produktivität - zum Beispiel durch technische Erfindungen - begannen die Menschen Überschüsse zu produzieren, was dazu führte, dass einige Personen Reichtümer anhäuften. Daraus entstand das Bedürfnis, diese Reichtümer nicht mit der Gens zu teilen, sondern sie für die eigenen Nachkommen zu reservieren. Dieser Übergang zum patriarchalischen Erbrecht brachte jedoch nicht nur einen Machtverlust für die Frauen und Einschränkungen der weiblichen Sexualität mit sich, sondern auch eine Spaltung in Besitzende und Besitzlose, welche die Gens von innen sprengte.

"Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung. Diese erniedrigte Stellung der Frau [...] ist allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs." (Friedrich Engels, 1884, MEW 21)

Götter und Menschen

Weibliche Göttergestalten, die die Natur oder die Mutter Erde symbolisieren, sind in vielen Kulturen zu finden. Bei den Völkern des Andenraumes etwa ist der Glaube an Pachamama - die "Mutter Welt" - auch nach 500 Jahren Christianisierung noch lebendig. Und bieten die hinduistischen Mythen mit ihren zahlreichen Göttergestalten und deren oft widersprüchlichen Attributen nicht auch eine Fülle an Material, um den Machtkampf zwischen Mutterrecht und Patriarchat aufzuspüren? So stehen in der indischen Mythologie der unterwürfigen und fügsamen Ehefrau Sita des Ramayana mächtige Göttinnen wie Durga und Kali gegenüber, die die weibliche Lebenskraft Shakti symbolisieren. Könnte die Geschichte von Draupadi, die im Bhagavadgita Epos mit fünf Brüdern verheiratet ist, vielleicht sogar auf eine Punaluafamilie hindeuten? Dass Maya, die als "Zauberbild" für die mit den Sinnen erfahrbare Realität steht, zum "Trugbild" abgewertet und damit der Geist über die Natur erhoben wurde, kann als Sieg des männlichen Prinzips über das weibliche gedeutet werden.

Abraham gilt bei Juden, Christen und Muslimen als Begründer des Eingottglaubens. Man vermutet, dass sich der Wandel der jüdisch-israelitischen Religion zum Monotheismus im 6. Jhd. v. C. vollzogen hat. Vorformen sind bereits in Ägypten unter Pharao Echnaton im 14. Jhd. v. C. nachweisbar, der Aton zum alleinigen Gott erhob. Der Weg zum Eingottglauben, den auch andere Kulturen während dieser Zeit beschritten haben, dürfte mit dem Sieg des Patriarchats einhergegangen sein, zumal der übrig gebliebene Gott ein männlicher war und die weiblichen Gottheiten zurückgedrängt wurden. Zur Zeit der Entstehung und Ausbreitung von Christentum und Islam war der Übergang zum Patriarchat in der Region wohl bereits vollzogen.

Überholt oder Wunschdenken?

Es gibt Wissenschaftler, die die Richtigkeit der Behauptungen von Bachofen, Morgan und Engels anzweifeln. Auch nicht bei allen Feministinnen stießen ihre Ansichten auf Zustimmung. So schrieb Simone de Beauvoir 1949 über das Mutterrecht: "In Wirklichkeit ist dieses goldene Zeitalter nur ein Mythos." Ethnologen meinen heute, dass matrilineare und patrilineare Verwandschaftssysteme zur selben Zeit in verschiedenen Gegenden entstanden sind, je nachdem, ob die Arbeit der Frauen oder der Männer für die Gemeinschaft wichtiger war.

Sind also die Forschungen von Bachofen, Morgan und Engels überholt? Doch auch wenn sich nicht alle Völker auf die genau gleiche Weise aus der Urgesellschaft heraus entwickelt haben mögen, ist das noch lange kein Gegenbeweis für die Erkenntnisse von Bachofen, Morgan, Engels und anderen Forscher*innen. Man sollte sich zudem vor Augen halten, dass die Vorstellung einer Lebensweise ohne Klassen und Hierarchien von den dominanten Strömungen der Wissenschaften oft auch oft einfach deshalb abgelehnt wird, weil sie eine egalitäre Gesellschaft für unmöglich halten.


Perspektiven für die Befreiung der Frau

Heute noch existieren Gesellschaftsformen, die ähnlich sind wie die von Bachofen, Morgan und Engels beschriebenen, unter anderen bei den Mosuo in Südchina, den Akan in Ghana, den Tuareg in Nordafrika, den Minangkabau auf Sumatra und der Urbevölkerung Indiens. Historische Quellen lassen zudem darauf schließen, dass ähnliche Institutionen auch bei Kelten und Germanen existiert haben. Auch im Judentum ist die Mutter entscheidend für die Religionszugehörigkeit. Erst 1987 wurden in Ghana auf Druck des Internationalen Währungsfonds patriarchalische Besitz- und Erbverhältnisse durchgesetzt, welche eine Grundvoraussetzung für die kapitalistische Wirtschaftsweise bilden, und damit ein auch von den Kolonialherren unangetasteter Gesellschaftsvertrag aufgebrochen, der darauf abzielte, soziale Unterschiede innerhalb der Clans auszugleichen.

Bachofen, Morgan oder Engels haben anschaulich beschrieben, wie eine naturwüchsige Gesellschaftsordnung, in der alle einzelnen Mitglieder die gleichen Rechte und Pflichten haben, in der Lage ist, innere Konflikte auszugleichen. Es wäre jedoch falsch, Mutterrecht mit Frauenherrschaft gleichzusetzen. Die Freiheit, die diese Gesellschaftsform ihren Mitgliedern gewährt, kann auch nicht nach dem individualistischen Freiheitsbegriff von heute bemessen werden, da persönliche Interessen dem Wohl der Gemeinschaft untergeordnet sind. Wir wissen, dass die Welt nicht automatisch gerechter wird, nur weil mehr Frauen Machtpositionen innehaben, solange die ökonomischen und sozialen Verhältnisse aber nicht grundlegend verändert werden. Eine wirkliche Befreiung der Frau ist nicht denkbar ohne die Befreiung der gesamten Gesellschaft - genauso wenig wie die Befreiung des einen Geschlechts, ohne das andere mitzubefreien.

Bild: Die Erinnyen verfolgen Orest - William Adolphe Bouguereau, 1862

veröffentlicht in Talktogether Nr. 63/2018

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