Mikrokredite: Wer wenig hat, zahlt mehr

07.07.2019

Mikrokredite wurden lange als Weg aus der Armut angesehen und als Strategie der Entwicklungszusammenarbeit propagiert. Doch seit dem Zusammenbruch der Mikro­finanzindustrie in Indien wachsen die Zweifel. Können Mikrokredite die Lebenssituation der Menschen verbessern, oder treiben sie die Armen in neue Schuldenspiralen?

(c) Jaimoen87, Wikimedia commons
(c) Jaimoen87, Wikimedia commons

Sie besaß nur eine Kuh, doch heute ist sie eine erfolgreiche Unternehmerin, die Milch und Jughurt in Flaschen verkauft. Eine wunderbare Erfolgsstory. "Mehr als eine Miilliarde Menscehn lebt heute in Armut Mikrokredite können ihnen helfen, eine stabile Lebensgrundlage aufzubauen!, heißt es auf der Homepage von Oikocredit-Austria, Oikocredit ist eine internationale Genossenschaft, die Mikro- und Projektkredite in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa finanziert und damit einen Beitrag zur weltweiten Armutsbekämpfung leisten will. Das erforderliche Kapital stammt auch Einlagen von Privatpersonen und Organisationen vorwiegend aus Westeuropa und Nordamerika, deren soziales Engagement mit zwei Prozent Dividende pro Jahr belohnt wird. Aber geht diese Milchmädchenrechung tatsächlich auf?

Indien: Die Bäuerin Rajitha, Mutter von zwei Kindern suchte ihren Mann, der am Abend nicht von der Feldarbeit zurückgekehrt war. Sie fand ihn tot an einem Baum hängend. Der Grund: Überschuldung. Rajitha und ihr Mann hatten sich Geld von einer bäuerlichen Selbsthilfegruppe geliehen, um einen Brunnen für das Feld zu graben und ein Haus zu bauen. Doch die Ernte schlug fehl. Die nächsten Jahre waren ein Albtraum. Ihre Einnahmen reichten nicht aus, um die Schulden zurückzubezahlen, und sie mussten sich neues Geld von Freunden, Verwandten und Geldverleihern borgen, so dass die Schulden ständig anstiegen. Schließlich kam ein Mikrofinanz-Agent und bot ihnen einen Kredit über 10.000 Rupien (220 Dollar) an. Sie schlossen sich mit anderen DorfbewohnerInnen, die ebenfalls Kredite aufnahmen, in einer Gruppe zusammen. Doch nun wurden Rajitha und ihr Mann von den anderen Mitgliedern der Gruppe verfolgt, wenn sie ihre Schulden nicht rechtzeitig bezahlten. "Sie folgten uns, wenn wir ins Geschäft einkaufen gingen, sie folgten uns auf das Feld und beschimpften uns in der Öffentlichkeit. Die anderen Gläubiger begannen ebenfalls, uns zu jagen. Wir schämten uns, wir waren in großen Schwierigkeiten. Mein Mann und ich stritten jeden Tag und beschuldigten uns gegenseitig." Nach dem Tod ihres Mannes verließ Rajitha mit ihren zwei Kindern das Dorf, um bei ihrem Vater zu leben. "Ich bin jetzt abhängig von meinen Eltern. Ich kann nicht an meine Zukunft denken." Sie weint.

Ein anderes Beispiel in Indien: Fatima Mohamed lieh sich Geld, um ein Teehaus zu eröffnen. Doch das Teehaus brachte nicht genug ein, denn die Leute im Dorf haben alle zu wenig Geld, um viel zu konsumieren. Schließlich fand sie sich in einer endlosen Schuldenspirale gefangen. "Ich nahm einen Mikrokredit, doch der reichte nicht aus. Dann nahm ich einen zweiten, um den ersten zurückzuzahlen, danach einen dritten ... Innerhalb von ein paar Jahren nahm ich fünf Kredite auf." Sie war kurz davor, sich selbst anzuzünden, ihre Familie konnte sie im letzten Moment davon abhalten. (1)

Krise der Mikrofinanzindustrie in Indien

Frauenselbsthilfegruppen wurden ursprünglich gegründet, um gemeinsam ein bisschen Kapital anzusparen und günstige Kredite von staatlichen Banken zu bekommen. Doch dieses Geschäft wurde von Mikrofinanzunternehmen übernommen, die schneller höhere Kredite anbieten. Diese werden von den Banken bevorzugt, weil sie Schulden konsequenter eintreiben. In Indien haben 30 Millionen Familien Kredite aufgenommen. Die Mikrofinanzindustrie wuchs in atemberaubendem Tempo. Doch innerhalb von ein paar Monaten änderte sich die Situation. Die meisten Kreditnehmer hatten wenig Erfahrung darin, ein Unternehmen zu führen. Viele, die die Raten und die hohen Zinsen nicht bezahlen konnten, begingen aus Verzweiflung und Scham Selbstmord. 2010 war die Mikrofinanzindustrie mit einer Krise konfrontiert. Immer mehr Schuldner weigerten sich, das Geld zurückzuzahlen, und die Banken wollten kein Geld mehr in diese Unternehmen investieren. Es sind schlechte Schulden, die niemand haben will, das Geld kann nicht in die Wirtschaft investiert werden und blockiert so das Wachstum.

Ein zentrales Argument für Mikrokredite ist, dass damit ein Zugang zu Krediten für Menschen geschaffen wird, die keinen Zugang zu normalen Bankkrediten haben. Es ist eine Tatsache, dass es für die Menschen in vielen Regionen der Welt unglaublich schwierig ist, an Geld zu kommen. Andererseits ist es aufgrund der weltweiten Überproduktion - im Vergleich zur Kaufkraft - immer weniger profitabel geworden, Geld in der Produktion anzulegen. Deshalb wandert immer mehr Kapital in den Finanzsektor. Mit den Mikrokrediten wurde eine neue KundInnenschicht für das Finanzkapital entdeckt, nämlich die Armen dieser Welt.

Demokratisierung des Kreditwesens oder ideologisches Projekt?

Mikrokredite entsprechen dem neoliberalen Konzept, die Lösung von Problemen auf Individuen zu verlagern. Staatliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, wie Subventionen auf Grundnahrungsmittel, wurden auf Druck von IWF und Weltbank abgeschafft. Bemühungen, Importe aus dem Ausland zurückzudrängen und Produkte in den Ländern selbst herzustellen, sind aufgrund verstärkter internationaler Konkurrenz gescheitert. Gleichzeitig setzte eine intensive Propaganda für Mikrokredite ein. Die Verleihung des Nobelpreises an deren Erfinder Mohammed Yunus entspricht dieser Logik. Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2005 der Mikrofinanzierung gewidmet.

Vergeben werden diese Mikrokredite meist von NGOs, die ihr Geld wiederum von Banken erhalten. Für AnlegerInnen in den reichen Teilen der Welt, die ihr Geld nicht in die Rüstungs- oder Atomindustrie stecken wollen, ist es ein verlockendes Angebot, ihr Geld in solche Organisationen zu investieren. Noch dazu ist das Risiko gering, weil bei Mikrokrediten die Rückzahlungsrate bei über 90 Prozent liegt. Die Armen zahlen gut. Diese Sicherheit gilt auch als Werbefaktor für längerfristige Geldanlagen. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit ging man weg von staatlicher Hilfe und propagierte Mikrokredite. So schrieb Elisabeth Schmid von der Austrian Development Agency (2): "Anders als noch vor einigen Jahren gilt Mikrofinanzierung heute nicht mehr als Wohltätigkeit. Die Institutionen müssen zumindest kostendeckend arbeiten, um nachhaltig zu wirken."

Sind Mikrokredite ein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung oder geht es dabei vor allem um die Rendite? Verfechter des Mikrokreditmodells argumentieren, dass eine verantwortungslose Vergabe von oft mehreren Mikrokrediten, ohne zu prüfen, ob der Kreditnehmer diese jemals zurückzahlen können wird, sowie mangelnde Beratung und Betreuung die Probleme verursacht hätten, Mikrokredite prinzipiell aber eine gute Sache seien. Es sei eine ethische Pflicht von Mikrofinanzorganisationen, genau zu prüfen, ob eine Kreditvergabe erfolgversprechend ist. Ein großer Teil der Erträge werde für Beratung und technische Hilfeleistung verwendet, sagt Günter Lenhart von Oikocredit, dafür würden Anlegern nur zwei Prozent Rendite bezahlt.

Ein weiteres Argument ist, dass mit Mikrokrediten Frauen gefördert werden. Wenn sie selbständig ein Unternehmen gründen und damit ihre Familie ernähren könnten, wachse ihr Selbstbewusstsein und ihre Rolle in der Familie und Dorfgemeinschaft werde gestärkt. Interessanterweise sind Frauen Hauptempfängerinnen und teilweise sogar ausschließliche Empfängerinnen dieser Mikrokredite. Ob bei den Geldgebern die soziale Stärkung der Frauen im Vordergrund steht oder ihre größere Bereitschaft, mehr zu arbeiten und auf vieles zu verzichten, um den Kredit zurückzahlen zu können, bleibt zu hinterfragen.

Nun könnte man einwenden, dass Mikrokredite trotzdem eine Chance für die Armen bedeuten, sich ein besseres Leben aufzubauen, und dass es zahlreiche erfolgreiche Projekte gibt. Doch Mikrokredite haben sehr hohe Zinsen, zwischen 20 bis 30 Prozent. Das ist zwar niedriger als bei Geldverleihern, aber weitaus höher als bei staatlichen Banken. Selbsthilfegruppen fordern deshalb den direkten Zugang zum staatlichen Kreditsystem. Besitzlose Slumbewohner oder Slumbewohnerinnen haben ohnehin keine Chance auf einen Mikrokredit, weil sie über keinerlei Sicherheiten verfügen und somit nicht als "kreditwürdig" gelten.

Venezuela: Hier geht man anders mit MikrokreditnehmerInnen um. Zum Großteil werden Kooperativen gefördert, die Zinsen sind staatlich subventioniert und es ist mit diesen Maßnahmen gelungen, Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem sind Kooperativen in Venezuela in einer Organisation zusammengeschlossen und können auf bereits 44 Jahre Selbstverwaltung zurückblicken. Aber auch Kooperativen sind den Gesetzen des Marktes ausgeliefert und stehen in Konkurrenz zueinander, wobei hier die EigentümerInnen das volle Risiko tragen. Das heißt jedoch auch, dass hier kein Mindestlohn, keine Sozialversicherung und kein Arbeitszeitgesetz gelten. So gibt es bereits Unternehmen, die Arbeiten an Kooperativen auslagern, um Kosten zu sparen.

Schließlich bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, Menschen dazu zu ermutigen, ein Geschäft in einem Dorf aufzumachen, in dem alle arm sind. Wer sollte in diesem Shop einkaufen? Zu viele Produkte auf kleinem Raum drücken zudem die Preise. Auch wenn es einzelne erfolgreiche Beispiele gibt, tragen laut einer US-Studie (3) Mikrokredite insgesamt wenig zum wirtschaftlichen Wachstum in Entwicklungsländern bei. Das Geld fließe vor allem in den Konsum und trage bestenfalls zum Erhalt einer von Kleinstunternehmen geprägten Subsistenzwirtschaft bei. Im Gegenteil verursache die Verschuldung durch Mikrokredite noch mehr Landflucht und den Verlust der Lebensgrundlage vieler KleinbäuerInnen.

In Ägypten waren Mikrokredite sogar einer der Auslöser für die Revolution, weil dort die Polizei die Rolle der Schuldeneintreiber erfüllte, was zur allgemeinen Empörung über die Polizeibrutalität beitrug. Strukturelle Ursachen für die Armut wie knappe Wasserressourcen, Umweltzerstörung und ungerechte Handelsbedingungen können eben nicht individuell gelöst werden.

Links:

erschienen in Talktogether Nr. 40/2012