Augen auf! Stoppt die Gewalt!

25.11.2016
Bild: Mohammad Sadeqi
Bild: Mohammad Sadeqi

Was haben eine gut bezahlte Managerin, eine Richterin oder eine Professorin mit einer Fabrikarbeiterin gemeinsam, die mit ihren Kindern in einer Slumhütte lebt? Was verbindet diese Frauen mit der Migrantin, die ihre eigenen Kinder zurücklassen muss, um sich um deren Haushalt, deren Kinder oder deren pflegebedürftige Eltern zu kümmern?

Laut Statistiken der UNO werden weltweit bis zu 70 Prozent aller Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt. Und diese Gewalt beschränkt sich nicht auf spezielle Kulturen, Regionen, Länder oder bestimmte Gruppen von Frauen. Soziale Schicht und Bildungsstand spielen aber dennoch eine Rolle, nämlich im Hinblick auf die Frage, welche Möglichkeiten eine Frau hat, sich dagegen zu wehren.

Bedrohung und Belästigung, Freiheitsberaubung, Abtreibung weiblicher Föten, Zwangsheirat, sexualisierte Gewalt, Genitalverstümmelung, Vergewaltigung und Mord ... die Liste der Grausamkeiten, die gegen Frauen und Mädchen nur aufgrund ihres Geschlechts begangen werden, ist lang. Die Opfer sind nicht nur in so genannten "unterentwickelten" Ländern zu finden, sondern auch bei uns in Europa sind die Frauenhäuser voll. Tagtäglich werden in unserer Nachbarschaft Frauen krankenhausreif geschlagen, bedroht, kontrolliert und erniedrigt. Und sehr oft wird ihnen diese Gewalt nicht von Fremden zugefügt, sondern sie findet in den eigenen vier Wänden statt.


URSACHEN FÜR DIE GEWALT

Ist es ein Gesetz der Natur, dass Männer über Frauen herfallen wie wilde Tiere? Nun haben aber Vergewaltigungen weniger mit Natur und Sexualität zu tun als mit Aggression und Machtdemonstration. Die Bedrohung durch Angriffe zwingt die Frauen in enge Schranken. Vergewaltigungen werden aber auch als Kriegswaffe eingesetzt mit dem Ziel, den (männlichen) Gegner zu demütigen - wie im Zweiten Weltkrieg, im Bosnienkrieg, im Kongo oder jüngst durch die Terrormiliz IS. Peggy Reeves Sanday hat in ihren Forschungen herausgefunden, dass die Ungleichheit der Boden ist, auf dem die Gewalt gedeiht. Die Anthropologieprofessorin hat 95 ursprüngliche Stammesgesellschaften untersucht und miteinander verglichen. Dabei ist sie zu der Erkenntnis gelangt, dass Vergewaltigungen in egalitären Gesellschaften, in denen Frauen gleichberechtigt an öffentlichen Ent­scheidungsfindungen teilhaben, quasi nicht existent sind. Im Gegensatz dazu haben Frauen in Gesellschaften, in denen Vergewaltigungen häufig passieren, wenig Macht und erfahren wenig Respekt.

GEWALT ALS MACHTINSTRUMENT

In einer hierarchischen Gesellschaftsordnung sind es die Schwächeren und Machtlosen, die sich anpassen, verfügbar sein und gehorchen müssen. Gewalt oder die Androhung von Gewalt sind Instrumente, andere in die Schranken zu weisen und sie dazu zu zwingen, sich zu unterwerfen. Gewalt wird nicht nur von Individuen, sondern auch von staatlichen Organen und im Namen von Gesetzen ausgeübt. Wenn eine Asylwerberin nach der Gewalt, die sie durchlitten hat, mit Abschiebung und Auslieferung an ihre Peiniger bedroht wird, wenn eine illegalisierte Einwanderin aus Angst vor einer Ausweisung es nicht wagt, sich gegen anhaltende sexualisierte Gewalt zu wehren oder wenn eine schwangere Roma-Frau, die, nachdem sie in einem Park in Bologna von sechs Männern vergewaltigt worden war, aus Italien ausgewiesen wird, so sind das Beispiele für die himmelschreiende Ungerechtigkeit, mit der die Staatsgewalt mitunter Menschen behandelt, die sich aufgrund ihrer Machtlosigkeit nicht wehren können.

SEXISMUS UND GEWALT

Die Gewalt hat aber unterschiedliche Erscheinungsformen. Nicht immer tritt sie offen und unvermittelt auf, oft bleibt sie im Verborgenen, und dennoch ist unser Alltag von ihr durchdrungen. Rollenbilder sind häufig so tief im Bewusstsein verankert, dass Frauen scheinbar bereitwillig bei diesem Spiel mitmachen, ohne die Gewalt dahinter zu erkennen. Eine der Ursachen für den Anstieg der Gewalt gegen Frauen in der heutigen Gesellschaft ortet die britische Journalistin Natasha Walter in der zunehmenden Warenförmigkeit der Sexualität. Der erleichterte Zugang zu Pornographie durch das Internet, schreibt Walter in ihrem 2010 veröffentlichten Buch "Living Dolls", ermutige die Männer, Frauen als Objekte anzusehen. Die pornographische Ästhetik, wie sie durch Medien, Werbung und Pop-Kultur vermittelt wird, so Walter, setze viele Frauen unter Druck, bestimmten Schönheitsidealen zu entsprechen und immer für Sex verfügbar zu sein. In einer Befragung, die Natasha Walter durchgeführt hat, haben einige junge Mädchen angegeben, sich eine Schönheitsoperation zu wünschen. Wo bleibt hier die Selbstbestimmung europäischer Frauen über ihren Körper und ihre Sexualität?

WAS TUN GEGEN DIE GEWALT?

Manche plädieren für strengere Gesetze gegen Gewalttäter und mehr Schutzeinrichtungen, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen. Gesetzliche Reformen zeigen jedoch leider oft nicht die erwünschte Wirkung. Aus Scham oder um einer nahe stehenden Person nicht zu schaden, scheuen sich viele Frauen, über die erfahrene Gewalt zu sprechen, die Täter anzuzeigen und Hilfe zu suchen. Für Frauen, deren Aufenthaltsrecht und/oder finanzielles Überleben vom Ehemann abhängig sind, ist der Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung besonders schwierig. Schließlich kommt es nur in einem Bruchteil der angezeigten Fälle zu einer Verurteilung. Oder ist es die Angelegenheit jeder Frau, sich selbst darum zu kümmern, nicht zum Opfer zu werden? Sollte sie abends nicht allein aus dem Haus gehen oder sich Produkte wie vergewaltigungsresistente Unterwäsche kaufen, mit denen manche Firmen werben? Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man den Ratgeber liest, den das spanische Innenministerium als Reaktion auf den Anstieg von gewalttätigen Angriffen gegen Frauen herausgegeben hat. Darin heißt es, Frauen sollten nicht regelmäßig durch verlassene und dunkle Straßen gehen. Nicht erwähnt wird, wie eine Frau das anstellen sollte, die in der Nacht arbeiten muss. Die Angst vor Vergewaltigungen scheint zudem dafür eingesetzt zu werden, Frauen vom Protest gegen das neoliberale Sparprogramm abzuhalten: Laut Ratgeber seien Demonstrationen ein Anziehungspunkt für Vergewaltiger.

Wenn aber die Gewalt nur ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, müssen wir uns fragen, warum die Rechte, die von den Frauenbewegungen errungen wurden, uns von dieser Gewalt nicht befreien konnten. Frauen sind heute ökonomisch unabhängiger als je zuvor. Noch nie in der Geschichte waren so viele Frauen in hoch qualifizierten und gut bezahlten Berufen zu finden, und das trifft nicht nur auf Europa und Nordamerika zu, sondern auch auf Frauen aus der Mittel- und Oberschicht in den Ländern des Südens. Sexismus, frauenfeindliche Ideologien und Gewalt gegen Frauen sind jedoch längst nicht ausgerottet, sondern erscheinen nur in immer neuen Gewändern. Sie können durch Gesetze und Reformen vielleicht etwas abgemildert werden, aber abschaffen können wir diese Übel wohl nur dann, wenn sich Strukturen und Werte der Gesellschaft grundlegend verändern. Solange Ungleichheit besteht, wird auch die Gewalt nicht verschwinden.

DIE FRAUEN WEHREN SICH

Als Fortschritt kann aber die Tatsache gewertet werden, dass viele Frauen auf der ganzen Welt nicht mehr bereit sind, Sexismus und Gewalt hinzunehmen. Das bekam auch der konservative Bürgermeister von Valladolid, Francisco Javier León de la Riva, zu spüren. Seine Warnung an alle Männer: "Wer alleine mit einer Frau in einen Aufzug steigt, muss damit rechnen, dass sie sich den BH und den Rock herunterreißt, schreiend herausläuft und behauptet, Opfer eines Übergriffs geworden zu sein", rief in Spanien große Proteste hervor. Aber auch in extrem konservativen Ländern wie Saudi-Arabien wehren sich Frauen zunehmend gegen Gewalt und Beschränkungen im Alltag und fordern ihre Rechte immer vehementer ein, zum Beispiel das Recht zu wählen und mit dem Auto oder dem Rad zu fahren.

Ein radikales Beispiel dafür, dass Frauen es satt haben, noch länger Opfer zu sein, liefert die indische Gulabi Gang. Diese in Eigeninitiative entstandene weibliche Garde im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh hat die Verteidigung der Frauen in die eigenen Hände genommen. In dieser vom Feudalismus geprägten Region leben 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, 47 Prozent der Frauen können weder lesen noch schreiben. Vor allem für Frauen aus den unteren Kasten gehören sexuelle Übergriffe zum Alltag. Mit Stöcken bewaffnet und in grelle, pinkfarbene Saris gekleidet patrouillieren die Mitglieder der Gulabi Gang durch die Dörfer, stellen gewalttätige Ehemänner zur Rede, verhindern Kinderhochzeiten, gehen gegen tyrannische Schwiegereltern vor und zwingen korrupte Polizeibeamte, Vergewaltiger zu verhaften. Trainiert in der traditionellen Stockkampfkunst Lathi scheuen sie auch nicht davor zurück, unbelehrbare Ehemänner zu verprügeln. Gefürchtet sind die Frauen der Gulabi Gang aber nicht nur wegen ihrer Knüppel und der Bereitschaft, Gewalttäter hartnäckig zu verfolgen, sondern vor allem wegen der Medienwirksamkeit ihrer Aktionen.

Foto: Mohammad Sadeqi. Ausstellung zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen im UniPark Salzburg. Mohammad Sadeqi und Nina Vasilchenko 2014

veröffentlicht in Talktogether Nr. 50/2014


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