Aleksandra Kollontai und die Rote Liebe

08.03.2018

"Der heutige Mensch hat keine Zeit zu lieben. In der Gesellschaft, die von vornherein auf Konkurrenz gegründet ist, im grausamsten Kampf um die Existenz, bei der unentrinnbaren Jagd um das armselige Stück Brot oder nach Vermögen und Karriere bleibt keine Zeit für die Kultur des anspruchsvollen und empfindlichen Eros."

Frei wie der Wind, einsam wie das Steppengras

"Die Frauen und ihr Schicksal beschäftigten mich ein Leben lang, und ihr Los war es auch, das mich zum Sozialismus führte", schrieb Alexandra Kollontai 1926 in ihrer "Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin", in der sie auf ihre Zeit der revolutionären Parteiarbeit zurückblickte. Die politische Karriere der Tochter eines russischen Generals und einer Frau aus einer finnischen Arbeiterfamilie war für die damalige Zeit zweifellos beispiellos. Nachdem sie erfolgreich ein Lehrerinnenexamen absolviert hatte, heiratete sie gegen den Willen der Eltern 1883 ihren Vetter Wladimir L. Kollontai. Obwohl es sich um eine Liebesheirat gehandelt hatte, litt die junge Frau schon bald unter der Eintönigkeit ihrer Ehe. Ein Schlüsselerlebnis für ihr politisches Engagement war der Besuch einer Textilfabrik in Russland, wo sie mit den erschreckenden Lebensbedingungen der Arbeiterklasse konfrontiert wurde. Aufgrund dieser Erfahrung hielt sie Veränderung für unbedingt nötig und suchte Kontakt mit revolutionären Gruppen.

1889 trennte sich Alexandrea Kollontai von ihrem Mann und zog in die Schweiz, um ein Studium zu beginnen. Dank der finanziellen Unterstützung durch ihre Eltern und der guten Unterbringung ihres Sohnes konnte sie sich ganz ihren Interessen widmen. 1899 kehrte sie nach Russland zurück, hielt dort Vorträge und wandte sich der Frauenarbeit zu. Bereits 1905 setzte sich die militante Verfechterin der Frauenrechte für autonome Frauenabteilungen innerhalb der Partei ein. Sie beteiligte sich am Kampf der revolutionären Intelligenz Russlands gegen das Zarenregime und wurde mehrmals angeklagt und verhaftet. 1908 emigrierte sie nach Deutschland, wo sie August Bebel, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kennenlernte. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges agitierte sie für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und verdiente ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin.

Im Februar 1917 kehrte sie als eine der ersten politischen EmigranInnen zurück nach Russland und schloss sich den Bolschewiki an. Nach der Oktoberrevolution gehörte sie als erste Frau dem revolutionären sowjetischen Regierungskabinett an. Als erste Ministerin der Welt war Alexandra Kollontai verantwortlich für eine Reihe fortschrittlicher sozialpolitischer Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Frauen. Dazu gehörte vor allem eine Reform des Eherechts sowie die Mutterschutzregelung von 1917, die einen Schwangerschaftsurlaub bei voller Bezahlung und Arbeitsplatzgarantie regelte. Um die Frauen von der Hausarbeit zu entlasten, schlug sie vor, Volksküchen und kollektive Kindererziehungseinrichtungen einzurichten, denn eine wirklich befreite Frau müsse materiell vom Mann unabhängig sein. Nach ihren Worten bedeutete jede gut eingerichtete Kinderkrippe mehr als 20 Agitationsreden. Für Alexandra Kollontai gab es keinen Zweifel: Ohne Sozialismus gibt keine Befreiung der Frau - und ohne Befreiung der Frau keinen Sozialismus. 1918 erschien ihr Werk: "Die neue Moral und die Arbeiterklasse". Aber ihre neue Sexualmoral, die sie in Worten und Taten vertrat, wurde oft missverstanden und verleumdet, sogar von ihren eigenen Parteigenossen, stellte sie doch vertraute patriarchalische Strukturen in Frage. Nach dem Tod von Inessa Armand übernahm Alexandra Kollontai die Leitung der Frauenabteilung "Shenotdel" im Zentralkomittee und veröffentlichte 1921 ihr Buch: "Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung".

Alexandra Kollontai scheute sich nicht, die Partei und auch den Revoluti­onsführer Lenin zu kritisieren. Nicht nur mit ihrer konse­quenten Haltung in der Frauenfrage, sondern auch durch ihre harsche Kritik an den Bürokratiesierungstendenzen, die sie auf dem 10. Parteitag im März 1921 äußerte, begab sie sich in Opposition zur Partei. Daraufhin trat sie von ihrem Posten zurück und wurde Botschafterin in Norwegen. Auch ihre Tätigkeit als Botschafterin blieb nicht ohne Einfluss: 1944 trug sie zum Waffenstillstand zwischen Moskau und Helsinki bei und ermöglichte Finnland den Ausstieg aus dem Zweiten Weltkrieg. "Ich hatte immer ein Talent zu leben, und ich habe es heute noch. Ich habe viel erreicht, viel gekämpft, viel gearbeitet, aber ich konnte mich auch freuen am Leben, wie immer es aussah", schrieb sie 1950 in den Betrachtungen über die Vergangenheit. 1952 verstarb sie hochgeehrt in Moskau.

Die Rote Liebe

In ihren politischen und belletristischen Schriften analysiert sie konsequent nach historisch-materialistischen Grundsätzen die veränderlichen Formen von Liebe und Sexualität und deren Klassengrundlagen. Jede geschichtliche und daher auch ökonomische Epoche in der Entwicklung der Gesellschaft habe ihr eigenes Eheideal, und jede Klasse demnach ihre entsprechende Sexualmoral. Je fester sich das Privateigentum etabliert habe, meinte sie, desto strikter wurde auch der Moralkodex. Das Bürgertum "hat das Ideal absoluten Eigentums an dem emotionellen wie physischen 'Ich' der 'Vertragspartner' sorgfältig gehegt und gepflegt, womit der Anspruch auf ein Eigentumsrecht - auf das Recht an der ganzen geistigen und seelischen Welt des Anderen ausgedehnt wurde".

In Die neue Moral und die Arbeiterklasse schreibt Kollontai: "Das Vorherrschen des Gefühls war eine der typischen Eigentümlichkeiten der Frau der Vergangenheit, dieses Vorherrschen des Gefühls bedeutete gleichzeitig Schmuck und Mangel der Frau. Die Verschärfung der wirtschaftlichen Gegensätze in der Gegenwart, die die Frau in den aktiven Kampf um die Existenz gezogen haben, verlangen, dass sie ihre Gefühle besiegt, fordern, dass sie nicht nur die vielgestaltigen sozialen Hindernisse zu nehmen lernt, sondern dass sie auch ihren so wenig widerstandsfähigen, leicht nachzugebenden erschlaffenden Geist durch ihren Willen stärkt." Durch die Entwicklung der Arbeiterklasse hat das kapitalistische System die ersten Weichen zur Befreiung der Frau geschaffen: die Möglichkeit der ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann. Die Arbeiterin wird wie ihr männlicher Kollege vom kapitalistischen System ausgebeutet und unterdrückt. Sie ist aber kein vom Willen und den Wünschen des Mannes abhängiges Wesen mehr, sondern eine Mitstreiterin im Kampf gegen den Kapitalismus.

Eine große Bedeutung in Alexandra Kollontais Schriften nimmt das Kollektiv ein - und die feste Überzeugung, dass eine effektive Gesellschaftsveränderung die dialektische Verschränkung von ideologischem Kampf und wirtschaftlicher Veränderung einschließe. Je stärker die Bindung zwischen den Mitgliedern des Kollektivs als Ganzes ist, desto weniger bedürfe es einer Stützung der ehelichen Beziehung. Die Emanzipation der Frauen verlange aber auch den Einsatz ökonomischer Ressourcen, um ihr Wohlergehen sicherzustellen und sie aus der Abhängigkeit der Männer zu befreien, lautete die Forderung - ein ungeheuerliches Projekt in einer Zeit des Weltkriegs und massiver Zerstörung gefolgt von Revolution und Bürgerkrieg. Für sie bedeutete der sozialistische Ansatz, dass "jede Frau das Recht habe, zu begehren und danach zu streben, sorgenfrei zu sein, wenn sie ihr Kind aufziehe, frei von der Angst, dass sie und ihr Kind sich eines Tages in Not und ohne Nahrungsmittel befänden". Männer sollten nach ihrer Vorstellung ihren Pflichten dadurch nachkommen, dass sie einen Beitrag in eine staatlich kontrollierte Vaterschaftskasse einbezahlten, der an Frauen mit Kindern weitergeben werden sollte.

Eine solche Evolution verändere nicht nur unsere Vorstellungen von der gesellschaftlichen Rolle der Frau, sondern bringe auch die bürgerliche Geschlechtsmoral ins Wanken. Nicht länger sollten die sexuellen Beziehungen über das Ansehen der Frau bestimmen, sondern ihre gesellschaftlich nützliche Arbeit. Von ihren Kritikern wurden diese Vorschläge als "Glas-Wasser-Theorie" diffamiert, die von der Vorstellung ausgeht, Sex solle so leicht zugänglich und so leicht zu stillen sein, wie der Durst durch das Trinken eines Glases Wasser. Im Gegensatz dazu entwickelte Kollontai jedoch eine viel komplexere Sicht, in der die Sexualität sowohl als gesellschaftliche wie auch geschichtliche Beziehung aufgefasst wird. Die Liebe sei, schreibt sie, keine reine Privatsache zweier liebender Herzen, sondern ein grundlegendes soziales Gefühl, das ein für das Kollektiv wertvolles verbindendes Element enthalte.

Die Theorien Alexandra Kollontais über Liebe und Sexualität sind auch heute noch erstaunlich aktuell. Wenn auch der moderne Sozialstaat heute Leistungen wie Sozialhilfe und Karenzgeld bietet, bleiben die Einzelnen mit der Last der Existenzsicherung und Kindererziehung allein gelassen, und wir sind von einer Befreiung der Frau noch weit entfernt. Wie unzureichend wurden die Forderungen von damals doch umgesetzt, und wie wenig Neues liefern heute moderne Konzepte wie "Gender Mainstreaming"?

Während die ökonomische Abhängigkeit der Frauen zwar nachgelassen hat, hat sich die Warenförmigkeit und Ausbeutung der Sexualität ausgeweitet - das Kaufen und Verkaufen sowie die Darstellung von Körpern in der Prostitution, Pornographie oder in den Massenmedien. Laut Kollontai entarte der gesunde Geschlechtsinstinkt zu einer ungesunden Begierde, wenn Liebe und sexuelles Begehren im Wunsch münden, das Objekt der Begierde zu besitzen. Wenn der Geschlechtsakt und die Stimulation der Sinne zum Ziel an sich verkommen, wird das Vergnügen in reine Wollust verwandelt und somit die Basis von Gleichberechtigung und Solidarität untergraben. In einer Zeit zunehmender Akzeptanz von allem, was sinnliches Vergnügen intensiviert, mag dies recht puritanisch klingen. Kollontai zeigte jedoch auf, dass die Jagd nach Lust nur ein Ausdruck der Freiheit der herrschenden Klasse ist, aber nicht die Basis für gleichberechtigte gemeinschaftliche Beziehungen bildet. Tatsächlich hat die konsumorientierte Sexualität der heutigen Zeit den Menschen keine Befreiung gebracht, sondern stellt im Gegenteil für den Kapitalismus ein Mittel zur Kontrolle und Repression der Menschen dar.

Im Gegensatz zu bürgerlichen Eigentumsverhältnissen und der Suche nach individueller Befriedigung, schaffen ihrer Meinung nach sozialistische, nicht auf Gewinn und Ausbeutung anderer ausgerichtete Produktionsverhältnisse die revolutionäre Möglichkeit von Beziehungen, die nicht mehr auf entfremdender Verdinglichung, Ausbeutung oder ökonomischer Abhängigkeit beruhen. Alexandra Kollontais Theorien eröffnen die Vision einer freien und gleichberechtigten Liebe und Kameradschaft, die sowohl notwendig sind zur menschlichen Erfüllung wie auch für den Erhalt der Bindungen zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs. Die proletarische Moral ersetze das bürgerliche Prinzip der Ehe durch drei Grundprinzipien: Erstens, die Gleichheit in den Beziehungen, zweitens, die beiderseitige Anerkennung der Rechte des anderen und der Tatsache, dass niemand des Anderen Herz und Seele besitze, und drittens, die genossenschaftliche Sensibilität - das Vermögen, sich in die Vorgänge der Seele des vertrauten und geliebten Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen.


Werke:

Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Guhl-Verlag, Berlin 1989
Ich habe viele Leben gelebt... Autobiographische Aufzeichnungen. Dietz-Verlag, Berlin 1987
Mein Leben in der Diplomatie. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1945. Dietz-Verlag, Berlin 2003
Die neue Moral und die Arbeiterklasse. Verlag Frauenpolitik, Münster 1977
Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. 14 Vorlesungen. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1977
Wassilissa Malygina. Erzählungen über "Wege der Liebe" im frühen Sowjet-Russland. Frauen zwischen Ehe und Revolution. Verl. Roter Stern, Frankfurt 1974
Wege der Liebe. Drei Erzählungen. Morgenbuch-Verlag, Berlin 1992
Der weite Weg. Erzählungen, Aufsätze, Kommentare. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1979

erschienen in: Talktogether Nr. 23/2008

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