Gespräch mit Bernadette Dewald, LG Ravensbrück

08.03.2011

Gespräch mit Bernadette Dewald,
österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück


T.T.: Wann und von wem wurde die Lagergemeinschaft Ravensbrück gegründet? Was waren die Ziele?

Bernadette: Gegründet wurde die Lagergemeinschaft von ehemaligen Häftlingen des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, die Gründungsfeier fand am 24. Mai 1947 in Wien statt. Die "Ravensbrückerinnen" waren in Österreich die erste Lagergemeinschaft, bis dahin hat es nur die Opferverbände gegeben, die von den politischen Parteien getragen wurden.

Einerseits ging es darum, die ehemaligen Ravensbrücker Häftlinge und ihre Hinterbliebenen zu erfassen. Das grundsätzliche politische Ziel, so wie es in unseren Statuten steht, besteht darin, die Reste von Faschismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus, Großdeutschtum sowie Neonazismus und Neofaschismus und Unterdrückung von Menschlichkeit und Demokratie, ganz gleich von wem sie ausgehen mögen, zu bekämpfen, sowie für Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie und Neutralität einzutreten. Des weiteren, Formen von gesellschaftlicher Ausgrenzung, Ausbeutung und Diskriminierung mit allen Mitteln entgegenzutreten. Eine wichtige Aufgabe war auch noch, die Interessen der Überlebenden gegenüber verschiedenen Stellen und Ämtern zu vertreten.

Es bekannt, dass die Menschen, die in den Lagern interniert waren, keine homogene Gruppe waren, sondern dass die Opfer aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gekommen sind, und dass ihr Leben und Überleben im Lager von diesen Faktoren mit beeinflusst worden ist. So hat es z.B. in den Lagern auch stets einen Anteil an politischen Häftlingen gegeben. Diese waren es auch, die nach ihrer Rückkehr die Lagergemeinschaften gegründet haben. Die meisten der Lagergemeinschaftsmitglieder kamen aus einem politischen Umfeld. Sie waren vorher schon Widerstandskämpferinnen gewesen. Es hat aber in Wien auch Frauen gegeben, die ursprünglich nicht aus dem Widerstand gekommen sind, aber verfolgt wurden, weil sie wie z.B. Hilde Zimmermann einen "feindlichen" Fallschirmspringer versteckt hatten, und die sich später in der Lagergemeinschaft engagiert haben.

T.T.: Wie bist du zur Lagergemeinschaft gekommen?

Bernadette: Bei mir war das ein Zufall. Ich bin 1998 als Filmemacherin gefragt worden, ob ich Interesse hätte, Interviews mit Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers zu filmen. Das war die Interviewreihe "Wege nach Ravensbrück" von Brigitte Halbmayr und Helga Amesberger, in der die Überlebenden ihre Erinnerungen erzählen. 42 Frauen wurden interviewt und 34 der Interviews wurden gefilmt. Es gab allerdings von Seiten der Überlebenden unterschiedliche Reaktionen auf das Vorhaben. Nicht alle wollten ihre Geschichte erzählen. Manche sagten, sie hätten sich das ihr Leben lang gewünscht, aber jetzt sei es zu spät. Am Anfang war ich ein bisschen verängstigt über die Aussicht, mich mit diesem schwierigen Thema so intensiv auseinanderzusetzen. Ich wollte es aber versuchen und war dann zunächt einmal sehr beeindruckt von den Widerstandskämpferinnen in der Lagergemeinschaft. Es eröffnete für mich ein ganz neues Feld. Als ich dann so Vieles erfahren hatte, konnte das nicht einfach wieder ad acta legen.

Einige Jahre zuvor hatte zudem die Lagergemeinschaft eine Initiative gestartet, um nach Frauen zu suchen, die ihr Lebenswerk fortführen könnten. Die damalige Obfrau Friedl Sinclair und Hilde Zimmermann gingen gezielt auf Veranstaltungen, von denen sie hofften, dort Frauen anzutreffen, die sich für das Thema interessieren, und versuchten, diese für die Arbeit in der Lagergemeinschaft zu gewinnen. Seither ist es für mich zu einer inneren Verpflichtung geworden. Abgesehen davon, dass es sich um Ziele handelt, die auch meinen entsprechen, hatte ich das Gefühl, dass mir durch die Erzählungen der Frauen eine Aufgabe übertragen worden ist. Nachdem ich mich mit den stundenlangen Interviews so intensiv auseinandergesetzt und gehört hatte, was diese Frauen erlebt haben, wollte ich mich der Thematik einfach nicht mehr entziehen.

T.T.: Möchtest du eine dieser Geschichten erzählen?

Bernadette: Es gibt ganz unterschiedliche Biographien, und es fällt mir sehr schwer, irgendeine Person herauszugreifen, es gibt keine exemplarischen Geschichten. Eine Lebensgeschichte, die mich zutiefst berührt hat, war die einer einfachen Frau aus der Lagergemeinschaft, Charlotte Gelb, deren Schwester ein Kind von einem jüdischen Mann hatte. Nach dem tragischen Tod der Schwester hat sie sich um das Kind gekümmert und später auch dessen Vater in ihrer Wohnung versteckt, einfach aus Loyalität zur Familie heraus. Sie ist von Nachbarn bei den Behörden verraten worden und ins Lager gekommen.

Dann gibt es Geschichten wie die von Lotte Brainin, die selbst aus einer jüdischen Familie stammte und in einem sozialdemokratischen Umfeld aufgewachsen ist. Sie ihrer frühen Kindheit war sie in der sozialdemokratischen Bewegung engagiert. Sie hat nie ihren eigenen Geburtstag gefeiert, sondern immer nur den Geburtstag der Russischen Revolution. Nach dem Anschluss war sie aufgrund ihrer Abstammung und ihrer politischen Tätigkeit extrem gefährdet. Sie flüchtete nach Belgien und hat dort weiter Widerstandsarbeit geleistet. Dort wurde sie aber von einem Wehrmachtsoldaten aus Österreich verraten, den sie zur Desertation überreden wollte, kam nach Auschwitz und danach nach Ravensbrück.

Nach ihrer Rückkehr von den Konzentrationslagern sind die Überlebenden meist nicht sehr begeistert empfangen, sondern von der Bevölkerung scheel angeschaut worden. Keiner wollte sich mit ihrer Geschichte konfrontieren. Viele waren auch im Grunde ihres Herzens noch Nazis und hatten die alten Ressentiments. Die Rückkehrerinnen standen aber auch unter innerlichem Druck. Lotte Brainin hat erzählt, dass sie sich nach dem Krieg noch viele Jahre und Jahrzehnte bei jeder Person, mit der sie zu tun hatte, fragte: Wo warst du? Was hast du in dieser Zeit gemacht? Wo bist du gestanden? Diese Fragen sind für sie zu einem prinzipiellen Thema geworden. Sie war weiterhin aktiv und ist ihr Leben lang mit ihrem Mann zu Veranstaltungen gegangen, die dieses Thema zum Inhalt hatten.

Alosia Hofinger wiederum war eine ganz einfache junge Frau, die auf dem Land gelebt hat und in einer Bauernfamilie aufgewachsen ist. Sie hat bei der Arbeit einen polnischen Zwangsarbeiter kennengelernt, in den sie sich verliebte. Die Beziehung zwischen den beiden blieb nicht ohne Folgen, und Alosia wurde schwanger. Doch dann wurde sie verraten, vermutlich von einer alten Magd. Der Mann wurde gehenkt, sie konnte ihr Kind auf die Welt bringen, das zu einer Bauernfamilie in Pflege gegeben wurde. Während sie im Lager war, ist das Kind an einer Lungenentzündung gestorben. Sie war eine der wenigen, die noch während des Krieges aus dem Lager entlassen wurde. Sie erfuhr noch im Lager von politischen Häftlingen, dass der Bürgermeister ihrer Heimatgemeinde gegen sie interveniert hatte, damit sie länger im Lager festgehalten wurde als von den Behörden geplant. Die Situation nach ihrer Rückkehr war für sie sehr hart, weil sie in ihrer Gemeinde wegen ihrer Beziehung zu dem Zwangsarbeiter und dem unehelichen Kind ausgegrenzt wurde.

Jede Geschichte hat ihre eigene Qualität, und ich habe tiefste Bewunderung für diese Frauen, die es nach diesen Erlebnissen geschafft haben, wieder Fuß zu fassen und ihre innere Richtung nicht zu verlieren.

T.T.: Wie haben die Frauen die Zeit im Lager überstanden? Wurde auch im Lager Widerstand geleistet?

Bernadette: Es gibt unterschiedliche Definitionen, was unter Widerstand zu verstehen ist. Es gab ganz konkrete Aktionen, um Menschen vor dem Abtransport zu retten, denn Transport bedeutete immer allerhöchste Gefahr. Frauen, die abtransportiert werden sollten, wurden versteckt, Nummern wurden ausgetauscht, damit sie nicht auf Transport gehen müssen. Politische Häftlinge hatten hier meist mehr Möglichkeiten, weil sie für bestimmte Funktionen wie als Lagerschreiberinnen oder in den Krankenstationen eingesetzt wurden, wo eine gewisse Einflussnahme möglich war.

Im Alltag äußerte sich der Widerstand in kleinen Dingen. Wenn es irgendwo Sonderrationen gab oder Nahrungsmittel abgezweigt werden konnten, wurden diese aufgeteilt. Solidarität untereinander war Widerstand, weil damit die Absicht bekämpft wurde, die Menschen zu brechen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie ausgeliefert und komplett machtlos seien. Lotte Brainin sagte: "Wenn man ständig selbst zu wenig hat, bedeutet es einen inneren Kampf, nicht egoistisch und bösartig gegenüber anderen zu werden." Es war Widerstand, diesen Instinkten nicht nachzugeben und ein freundlicher Mensch zu bleiben. In dieser Solidarität gab es aber auch Grenzen. Wer letztlich gerettet werden konnte, war immer eine Frage von Netzwerken und Verbindungen. Roma und Sinti oder auch jüdische Häftlinge haben diese Solidarität weniger erfahren.

T.T.: Wie ist es den Frauen nach ihrer Rückkehr ergangen?

Bernadette: Da gibt es große Unterschiede. Es gab bewusst politische Frauen wie Rosa Jochmann, die dann in der Politik tätig waren, oder auch viele andere Mitglieder der Lagergemeinschaft. Diese Frauen sind sehr stark nach außen gegangen, sie organisierten Ausstellungen und initiierten das Zeitzeuginnen-Programm in den Schulen.

Neben dem offensiven Umgang gab es aber auch viele Punkte, in denen viele der Frauen permanent verunsichert waren. Die meisten sind mit großen gesundheitlichen Schäden aus den Lagern gekommen, manche trauten sich aber aufgrund ihrer Erfahrungen nicht, zu Ärzten zu gehen. Frauen, denen Entschädigungszahlungen zugestanden wären, mussten sich von Amtsärzten untersuchen lassen, die ehemalige Nazis waren. Manche Frauen nahmen aus diesem Grund lange Zeit diese Zahlungen nicht in Anspruch. Das Problem war, dass nicht von einem Tag auf den anderen alle Nazis aus den Ämtern verschwunden waren. Es wäre wahrscheinlich aufgrund ihrer hohen Zahl gar nicht möglich gewesen, sie alle zu ersetzen. Es muss aber auch gesagt werden, dass dazu auch der politische Wille fehlte.

Viele Frauen haben nach ihrer Rückkehr aber auch den Wunsch gehabt, ein neues Leben zu beginnen und diese Zeit hinter sich zu lassen. Vor allem in den ländlichen Gegenden war es ein Problem, dass in den eigenen Familien oft Desinteresse an einer Auseinandersetzung mit dieser Zeit herrschte. Viele der Frauen haben deshalb Jahrzehnte lang geschwiegen. Viele Frauen haben nach ihrer Rückkehr geheiratet. Hier tauchte dann oft ein anderes, geschlechtsspezifisches Problem auf, nämlich dass die Erlebnisse des Mannes im Krieg oder auch in den Lagern immer im Vordergrund standen, und die Opfergeschichte des Mannes in der Familie als die wichtigere angesehen wurde.


T.T.: Die Überlebenden werden immer weniger. Gibt es genug Leute, die ihre Arbeit fortsetzen können und wollen?

Bernadette: Ich kann nicht allgemein sprechen, aber in unserer Lagergemeinschaft sind die die Treffen immer sehr gut besucht. Es gibt immer wieder Projekte, bei denen viele Leute mitarbeiten. Aktuell gibt es noch vier überlebende Frauen, die regelmäßig zu den Treffen kommen, und ca. 15-20 sogenannte "Junge". Im Vergleich zu den Anfangszeiten hat sich dieses Verhältnis komplett umgedreht. Seit zwei Jahren bemühen wir uns, eine gemeinsame Plattform aller Lagergemeinschaften zu bilden. So gab es im letzten Jahr und heuer (am 23.10.) Symposien, um uns darüber auszutauschen, wie wir mit dem Auftrag der Überlebenden umgehen. Wir wissen alle, dass der Wegfall der Zeitzeuginnen ein riesiger Verlust ist. Um wenigstens einen gewissen Ersatz für diesen Verlust zu schaffen, wurden die Video-Interviews gemacht. Es gibt aber noch eine andere Art von Zeitzeuginnen, nämlich die Kinder, die von der Geschichte ihrer Eltern und vom Umgang mit dem Thema nach der Rückkehr berichten können. Verstärkt beschäftigen wir uns auch damit, wie wir fremdenfeindlichen Auswüchsen und Ausgrenzungstendenzen der letzten Jahrzehnte begegnen können.

T.T.: Siehst du Tendenzen, die wieder in Richtung Faschismus führen könnten?

Bernadette: Ja, natürlich. Es ist erschreckend zu sehen, dass rechte Aussagen so viel Zustimmung vor allem von jungen Leuten erfahren. Die rechten Theoretiker kommen natürlich aus der alten Garde, es gibt hier ganz klare Kontinuitäten, woher diese rechten Tendenzen ideologisch herkommen. Ich denke aber nicht, dass jeder, der fremdenfeindliche Parolen nachplappert, von sich aus schon ein Faschist ist. Rassismus ist aber ein Riesenproblem in unserer Gesellschaft und verstärkt sich zunehmend. Ich persönlich sehe hier eine große Gefahr, und wir müssen ständig wachsam bleiben, um sie abzuwehren. Anderseits habe ich aber auch große Hoffnungen, dass eine Gegenbewegung entsteht und wieder mehr menschliche Konzepte in den Vordergrund treten, weil es ja in der geschichtlichen Entwicklung immer Wellen gibt. Es ist offensichtlich, dass nach dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" ein ideologisches Vakuum entstanden ist. Welche Möglichkeiten haben wir, gegen das System zu sein, wenn das kommunistische Modell anscheinend nicht funktioniert hat? Uns wird eingeredet, dass unsere jetzige gesellschaftliche Formation die einzig mögliche wäre. Aufgrund der ökonomischen Entwicklungen werden immer mehr junge Leute ins Abseits gedrängt. Je unzufriedener die Leute mit der gesamten Entwicklung sind, desto schwieriger wird es, weil meiner Meinung nach noch immer eine Konzeptlosigkeit herrscht in Bezug auf andere gesellschaftliche Möglichkeiten. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns nicht ständig durch diese Suggestion der "einzigen politischen Möglichkeit" entmutigen lassen, sondern dass wir uns der Herausforderung stellen, uns an der Entwicklung neuer soziopolitischer Konzepte zu beteiligen. Nur damit können wir den rechtsextremen xenophopischen Tendenzen gegensteuern.

Kontakt: Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen: https://www.ravensbrueck.at

mehr darüber: https://www.dewaldsites.eu/html/ZEITZEUGINNEN/visible-filmstills.html

Text und Video über Lotte Brainin: https://a-e-m-gmbh.com/wessely/flotte.htm

Bild: Großdemonstrationvon politisch Verfolgten des Naziregimes  am 17. Juni 1945, dem "Tag der Volkssolidarität", in Wien. (c) Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands

erschienen in Talktogether Nr. 38/2011