Gespräch mit Sadou Bah, Autonome Schule Zürich

27.10.2024
Foto: Talktogether
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Gemeinsam Lernen gegen Rassismus und Ungerechtigkeit

TT: Wie ist die Autonome Schule entstanden?

Sadou: Angefangen hat es mit einer Kirchenbesetzung. Ein neues Asylgesetz ist in Kraft getreten, nach dem abgewiesene Asylsuchende nur noch Nothilfe in Form von Gutscheinen bekamen. Um dagegen zu protestieren, haben die Sans-Papiers zusammen mit solidarischen Menschen im Dezember 2008 die Predigerkirche im Zentrum von Zürich besetzt und eine kollektive Regularisierung verlangt. Doch die Behörden haben gesagt, ihr seid Besetzer, mit euch reden wir nicht. Dann hat uns eine andere Kirche eingeladen, jetzt waren wir keine Besetzer mehr, sondern Gäste. So hat man mit uns geredet und uns versprochen, eine Härtefallkommission auf die Beine zu stellen. Härtefallkommission, das heißt, dass Menschen, die schon lange hier leben und gut integriert sind, die Möglichkeit erhalten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.

Das hat uns große Hoffnung gegeben. Wir dachten, die Behörden sind wohlwollend und wollen uns entgegenkommen. Bald haben wir jedoch realisiert, dass es vor allem eine Taktik war, um uns auseinanderzubringen. Da wir aber erfahren hatten, wie stark wir sind, wenn wir uns zusammenschließen, wollten wir nicht mehr zurück in die Notzentren gehen, sondern zusammenbleiben und gemeinsam weiterkämpfen. Und da wurde die Idee geboren, eine Schule zu gründen, in der wir voneinander lernen können. So ist im Februar 2009 die Autonome Schule entstanden. Am Anfang waren wir nur 30 Personen, aber wir sind ständig gewachsen und gewachsen – bis heute. Heute haben wir 800 Schüler und Schülerinnen.

TT: Warum war eine Schule für euch wichtig?

Sadou: Wir haben gesehen, dass sehr viele Migrant*innen Bildung benötigen. Obwohl immer gefordert wird, dass die Menschen die Sprache lernen und sich integrieren sollen, hat man ihnen keine Möglichkeit gegeben, Deutsch zu lernen oder einen Beruf zu erlernen. Also haben wir gesagt, wenn es die Behörden nicht für uns tun, machen wir es allein. So ist die Idee entstanden. Es war ein Selbsthilfeprojekt – wir helfen uns selbst. Es hat aber auch sehr viele Schweizer und Schweizerinnen gegeben, die das Projekt sehr gut gefunden haben und mitmachen wollten. Die meisten von ihnen waren sehr betroffen, dass der Staat die Menschenrechte so missachtet. Die Nothilfezentren, in denen die abgewiesenen Asylsuchenden untergebracht sind, liegen an weit abgelegenen Orten. Manchmal erlassen die Behörden sogenannte Rayonverbote, das heißt, die Leute dürfen sich nur im Umkreis von zwei Kilometern bewegen. Diese Menschen dürfen nicht integriert werden, und wenn sie ihren Rayon verlassen, werden sie verhaftet und müssen bis zu einem Jahr im Gefängnis bleiben oder hohe Bußgelder bezahlen. Das ist eine massive Missachtung der Menschenrechte und eigentlich rechtswidrig. Würde sich eine betroffene Person einen Anwalt nehmen, wird dieser den Fall sofort gewinnen. Aber die Menschen kennen ihre Rechte nicht, sie sind traumatisiert und werden krank. Wir haben zu ihnen gesagt, kommt zu uns, wir tauschen uns aus, wir lernen voneinander und stärken uns gegenseitig.

TT: Heißt das, dass in dieser Schule nur abgewiesene Asylsuchende sind?

Sadou: Nein, wir machen keinen Unterschied zwischen Menschen, die Papiere haben, und denen, die keine haben. Bei uns sind alle willkommen, die mitmachen möchten. Wichtig ist vor allem der gegenseitige Respekt, das heißt, die Rechte und die Meinung anderer müssen respektiert werden. Religion zum Beispiel ist für uns Privatsache, deshalb ist es nicht erlaubt, an der Schule religiöse Propaganda zu machen. Es hat auch Leute gegeben, die hier schlafen und sich eine Wohnung einrichten wollten, auch das ist sehr problematisch für uns. Seit wir angefangen haben, mussten wir aber erst drei oder vier Personen ausschließen, weil sie gegen Regeln verstoßen hatten.

TT: Das heißt, es waren nur ganz wenige Einzelfälle, wo Leute sich nicht an die Regeln gehalten haben?

Sadou: Ganz klar, das ist ein Wunder, wenn man bedenkt, dass hier Menschen aus allen Ecken der Welt zusammenkommen und hier friedlich miteinander leben. Wenn eine Person das erste Mal kommt, wird sie darüber informiert, dass wir hier Hausregeln haben. Dazu gehört auch, dass wir die Schule alle gemeinsam organisieren und verwalten. Alle haben die Möglichkeit, mitzureden und die Schule mitzugestalten. Wenn wir Erfolg haben, haben wir es gemeinsam geschafft, und wenn wir ein Problem haben, haben wir es auch gemeinsam zu verantworten. Es ist unsere eigene Schule, deshalb haben wir diese Ruhe.

TT: Wo war eure erste Schule und wie habt ihr die Räume hier bekommen?

Sadou: Man muss wissen, dass wir bis jetzt an vierzehn verschiedenen Orten untergebracht waren. In den ersten Jahren war es nur möglich, die Schule in besetzten Häusern zu machen. Am Anfang waren wir nicht bekannt, wir hatten Probleme mit der Polizei und kein Geld. Aber die Hausbesetzerszene war immer solidarisch mit uns. Der erste Ort, an dem unsere Schule untergebracht war, war ein besetztes Haus in der Manesse Straße. Das Gebäude stand leer und es gab viele Räume dort. Die Hausbesetzer haben zu uns gesagt, kommt doch zu uns und macht eure Schule hier. In einem besetzten Haus zu sein, bringt jedoch viele Probleme mit sich. Wenn der Besitzer das Haus leer haben will, schickt er die Polizei, und das ist natürlich für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung ein großes Problem. Deshalb war die Situation dort total prekär. Die Schule konnte innerhalb von zwei Monaten geräumt werden und wir mussten ein neues Lokal suchen. Es wurden uns dann von Organisationen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, die wir mitbenutzen durften. Das war aber auch schwierig für uns, denn wir durften die Räume nur zu bestimmten Zeiten verwenden.

Für uns ist es aber sehr wichtig, dass wir unsere Schule selbst verwalten können. Wir brauchen auch ein Café, in dem die Leute sitzen und miteinander sprechen können. Ein Treffpunkt ist für uns megawichtig. Deshalb haben wir beschlossen, selbst Räume zu mieten. In das Gebäude hier am Sihlquai sind wir vor fünf Jahren eingezogen und wir dürfen noch weitere zwei Jahre hierbleiben, danach wird das Haus abgerissen. Wir müssen Miete zahlen, aber die ist günstiger, weil es sich um eine Zwischennutzung handelt.

TT: Wie finanziert ihr eure Schule?

Sadou: Hauptsächlich durch Spenden. Von kirchlichen Organisationen erhalten wir manchmal größere Beträge, viele Privatpersonen spenden uns regelmäßig kleinere Beträge, von der Stadt Zürich erhalten wir 10.000 Franken im Jahr. Wir nehmen öffentliche Gelder aber nur an, wenn unsere Autonomie respektiert wird. Außerdem geben wir die Papierlose Zeitung heraus, die wir gratis verteilen, um die Menschen über unsere Schule zu informieren. Wer unser Projekt gut findet, kann etwas spenden.

TT: Welche Kurse werden hier angeboten?

Sadou: Kurse entstehen, wenn jemand eine Idee hat. Wir haben Theatergruppen, Mal- und Tanzkurse gehabt. Die Gruppen, die ständig da sind, sind die Sprachkurse. Wir haben Deutschkurse von der Alphabetisierung für Schulungewohnte bis zum C1-Niveau, sowie Deutsch-Konversation auf unterschiedlichen Niveaus. Es gibt außerdem Fremdsprachenkurse für Englisch, Französisch, Arabisch, Russisch und Türkisch, außerdem gibt es Computerkurse, Kurse für Mathematik, Yoga sowie eine Bewegungsgruppe für Frauen.

TT: Kommen auch Schweizer und Schweizerinnen zu euch?

Sadou: Ja, die Fremdsprachenkurse werden vor allem von Schweizern und Schweizerinnen besucht.

TT: Werden diese Kurse von Migrant*innen abgehalten?

Sadou: Ja, genau, deshalb sagen wir, bei uns gibt es keinen Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden. Lehrer sind Schüler und Schüler sind Lehrer, wir lernen voneinander.

TT: Kann man sagen, der Staat ist hart, aber die Bevölkerung ist solidarisch und unterstützt euch?

Sadou: Genau. Wir haben unser Bestehen nur der Bevölkerung zu verdanken. Wir sind hier dank der Menschen.

TT: Warum unterstützen diese Menschen euch?

Sadou: Weil wir eine Schule sind! Die Leute hier wollen sich integrieren, sie wollen die Sprache lernen, das darf man doch nicht kaputtmachen.

TT: Haben Leute wie du, die von Anfang an dabei waren, auch Papiere bekommen?

Sadou: Ja, die meisten haben Papiere bekommen, es gab allerdings auch einige, die verhaftet und ausgeschafft wurden. Es hilft, wenn man die Sprache gut lernt, denn die Härtefallkommission misst die Sprachkenntnisse. Wenn man B1-Niveau hat, hat man gute Chancen, regularisiert zu werden, also einen Aufenthaltstitel zu bekommen.

TT: Welche Art von Aufenthaltstitel gibt es in der Schweiz?

Sadou: Das ist eine gute Frage. In der Schweiz gibt es viele unterschiedliche Aufenthaltstitel, die alle mit unterschiedlichen Buchstaben gekennzeichnet sind. Wer einen Asylantrag gestellt hat, bekommt einen Ausweis mit dem Buchstaben N; Leute, die nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden aber nicht ausgeschafft werden können, weil in ihrem Land Krieg herrscht, bekommen den Buchstaben F; Personen, die als Flüchtlinge anerkannt sind, bekommen den Aufenthaltstitel B, damit erhält man sowohl eine Aufenthalts- als auch eine Arbeitsbewilligung, also man darf hier legal leben und arbeiten; Leute, die hier länger leben, bekommen den Aufenthaltstitel C.

TT: Hat man mit einem Aufenthaltstitel auch Anspruch auf Sozialleistungen?

Sadou: Für Migrant*innen in der Schweiz ist es gefährlich, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Wenn jemand über längere Zeit hinweg Sozialhilfe bezieht, kann die Aufenthaltsbewilligung wieder zurückgezogen werden. Auch wenn du dich einbürgern lassen willst, ist es ein Hindernis. Deshalb haben während der Corona-Zeit sogar viele Menschen, die prekär gearbeitet haben, auf Sozialleistungen verzichtet.

TT: Zu welchen Zeiten ist das Café geöffnet?

Sadou: Das Café ist immer geöffnet, wenn es Kurse gibt. Die Getränke sind fast kostenlos, und zwei bis drei Mal in der Woche gibt es auch ein Abendessen, das zwei Franken kostet. Das Geld verlangen wir deshalb, damit die Leute dem Essen Respekt entgegenbringen. Ich möchte erwähnen, dass in der ASZ auch das Projekt "Essen für alle" entstanden ist, um bedürftige Menschen während des Corona-Lockdowns mit Essen zu versorgen. Inzwischen ist das Projekt so groß geworden, dass andere Orte gefunden werden mussten, um einmal in der Woche Lebensmittel an bedürftige Menschen auszugeben.

TT: Kann man sagen, dass Zusammenhalt, Beharrlichkeit und Durchhaltevermögens die Basis für euren Erfolg sind?

Sadou: Ja, das Durchhaltevermögen war wirklich sehr wichtig. Heute sind wir anerkannt und haben kein Problem mehr mit der Stadt und den Behörden.

TT: Vielen Dank für das Gespräch!

Erschienen in Talktogether Nr. 89/2024

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