Die Wunden sind noch nicht verheilt
Warum wir immer noch über Dekolonialisierung reden müssen
Das Zeitalter des Imperialismus, wie die Unterwerfung großer Teile der Welt durch europäische Kolonialmächte bezeichnet wird, begann mit der Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents im 15. Jahrhundert. Seitdem ist die Wirtschaft global. Der Kolonialismus erstreckte sich über 300 Jahre transatlantischen Sklavenhandel bis zur Berliner Konferenz am Ende des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Kolonialmächte nahezu den ganzen afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten. Die Kolonialisierung ermöglichte nicht nur den Aufstieg des Kapitalismus, sondern auch die Industrialisierung Europas, durch welche sie noch weiter vorangetrieben wurde, da der Hunger nach Rohstoffen stieg. Die Eingriffe in den kolonialisierten Ländern reichten von der Plünderung der Natur, der Enteignung, Versklavung und Ausbeutung von Menschen bis hin zur Unterdrückung und Vernichtung einheimischer Kulturen und Sprachen.
Als Dekolonialisierung wird üblicherweise der Prozess verstanden, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte und in dessen Verlauf der Großteil der kolonialisierten Länder seine Unabhängigkeit erkämpfte.Auch wenn die ehemaligen Kolonien heute eigenständige Staaten sind, sind die vom Kolonialismus geschaffenen Strukturen bis heute wirksam. Der Zugang zu Macht und Ressourcen ist nach wie vor höchst ungleich. Die Kontinuität des Kolonialismus zeigt sich heute in neokolonialen Projekten wie Landgrabbing und Privatisierungen, aber auch in der paternalistischen Geste der Entwicklungshilfe. Auch in unseren Köpfen hat er Spuren hinterlassen. Völkerschauen, Werbung für Kolonialwaren und Romane, die die kolonialen Unternehmungen propagieren und rechtfertigen sollten, haben ein Bild erzeugt, dass sich in Geschichts- und Schulbüchern niedergeschlagen hat und bis heute nachwirkt. Die einseitigen und oftmals herabwürdigenden Darstellungen der Menschen aus anderen Kontinenten und Kulturen sind die Wurzeln des heutigen Rassismus.
Hat Österreich eine koloniale Vergangenheit?
Hierzulande wird oft das Argument vorgebracht, dass Österreich nie außereuropäische Kolonien besessen habe. Allerdings hatte die Habsburger Monarchie sehr wohl Bestrebungen, Kolonien zu erwerben. Zu diesem Zweck gründete Maria Theresia 1775 in Triest die Ostindische Handelskompagnie, welche 1777 die Delagoa-Bucht im heutigen Mosambik und ein Jahr später einige Inseln der Nikobaren im Golf von Bengalen erwarb. Nur wenige Jahre später wurde sie jedoch von Maria Theresias Nachfolger Josef II. auf Druck der europäischen Seemächte wieder aufgelöst, und Österreich verzichtete auf alle Ansprüche.
Auch wenn man wegen der kurzen Zeitspanne und weil es sich nur um den Besitz einer Handelsfirma handelte, kaum über Kolonien sprechen kann, bedeutet das nicht, dass österreichische Geschäftsleute nicht in den Sklavenhandel investiert und von kolonialen Ausplünderungen profitiert hätten. Wenig bekannt ist auch, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit kaiserlicher Unterstützung Expeditionen und Missionen in den Sudan, nach Uganda und ins Kongobecken durchgeführt wurden. An Unternehmungen wie diese erinnern geraubte Kunstschätze in österreichischen Museen, Straßennahmen und Denkmäler. Hinzu kommt, dass die von der Habsburger-Monarchie okkupierten Gebiete in Südost- und Osteuropa – wie Galizien, die Bukowina und Bosnien und Herzegowina – faktisch wie Kolonien angesehen und behandelt wurden.
Wessen Perspektive zählt?
Unter Wissen versteht man die Gesamtheit von Erfahrungen und Erkenntnissen über die Welt, die in verschiedenen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise weitergegeben werden. Dieses Wissen hat den Menschen zu allen Zeiten ermöglicht, in ihrer natürlichen und sozialen Umwelt zu überleben. Die zentrale Institution der westlichen Wissensproduktion ist die Wissenschaft, die jedoch keineswegs so objektiv ist, wie sie gern von sich behauptet. Die Kolonisatoren haben ihre Ziele nämlich nicht nur durch politische und ökonomische Gewalt durchgesetzt, sondern auch durch Normen und Weltanschauungen, die ihre Herrschaft festigen und rechtfertigen sollten. Dazu gehörte auch, anderes Wissen und andere Weltanschauungen abzuwerten. Deshalb ist heute jede Art von Wissen, ungeachtet der Disziplin, von der Denkweise des Kolonialismus durchwoben.
Die Sprache war ein wichtiges Instrument der Kolonialisierung. Sprache bedeutet Macht. Sie lenkt das Denken und Empfinden der Menschen und prägt die Werte einer Gesellschaft. Als Sprachimperialismus bezeichnet man das Bestreben, dominante Sprachen auf Kosten der Vielsprachigkeit durchzusetzen. Die Kolonialmächte führten ihre Sprachen ein, um die Menschen zu kontrollieren und das anzugreifen, was die Gemeinschaften verband. Das passierte nicht nur in den kolonialisierten Ländern. Ähnliches findet auch hier und heute statt, zum Beispiel indem für Migrant*innen hohe sprachliche Anforderungen und Hürden aufgebaut werden, während ihre vielfältigen Sprachkenntnisse abgewertet werden, sofern es sich nicht um dominante europäische Sprachen (wie Englisch) handelt.Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die Verachtung, die Europa außereuropäischen Kulturen entgegengebracht hat, sich auch gegen das eigene Volk gerichtet hat, das dem zivilisierten Bürger undiszipliniert, schmutzig, gewalttätig und lüstern erschien. Gleichzeitig mit der Enteignung der Landbevölkerung und ihrer Vertreibung von Grund und Boden fand in Europa eine Vernichtung überlieferten Wissens statt, die in den Hexenverfolgungen zu Beginn der Neuzeit ihren Ausdruck fand. Weitere Beispiele sind die Unterdrückung der irischen Kultur und Sprache, die mit der Unterwerfung Irlands unter die britische Herrschaft einherging, sowie die Zwangsassimilation der Roma und Sinti, die dem Umgang mit der indigenen Bevölkerung in Kanada oder Australien sehr ähnelte. Wir sehen also, dass alles, was den unterdrückten Menschen in fernen Ländern angetan wurde, auch den besitzlosen Klassen in Europa widerfahren ist.
Postkolonialismus vs. Dekolonialisierung
Über die Wirkungsmechanismen des Kolonialismus gibt es seit über 40 Jahren eine akademische Debatte. 1978 erschien das Buch "Orientalism" des Literaturwissenschafters Edward W. Said, der als Vordenker des Postkolonialismus gilt. Darunter wird eine Denkrichtung verstanden, die den Ansatz verfolgt,koloniale Hierarchisierungen und stereotype Denkmuster, die bis heute fortwirken, zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Diese basieren auf der Behauptung, dass dem fortschrittlichen Europa vermeintlich unterlegene und rückständige Kolonien gegenüberstehen. Said formulierte zwei grundlegende Thesen. Erstens hätten westliche Wissenschaftler die für sie fremden Kulturen als unterlegenes Anderes konstruiert. Zweitens sei das so produzierte Wissen dafür instrumentalisiert worden, koloniale Machtstrukturen zu verfestigen und zu legitimieren. Verstärkt wurde die Hierarchisierung durch wirkungsmächtige Gegensatzpaare, mit denen rassistische Weltanschauungen und ein westeuropäischer "Zivilisierungsauftrag" gerechtfertigt werden sollten.
Heute ist die postkoloniale Theorie in den Verruf geraten, antisemitisch zu sein. Begonnen hat diese Debatte 2020, nachdem der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung dem kamerunischen Philosophen Achille Mbembe vorgeworfen hatte, den Holocaust zu relativieren, weil er ihn in Zusammenhang mit kolonialen Verbrechen gesetzt hat, und sie intensivierte sich nach dem Anschlag der Hamas gegen israelische Zivilist*innen am 7. Oktober 2023. Neben seiner Widersprüchlichkeit könne dem Postkolonialismus angekreidet werden, zuweilen nationalistische Annahmen zu verbreiten, meint dazu der US-amerikanische Soziologe Vivek Chibber, der Vorwurf des Antisemitismus sei hingegen nicht gerechtfertigt. Berechtigt sei vielmehr die Kritik, dass der Postkolonialismus antimarxistisch sei. Obwohl der Marxismus die zentrale Ideologie der Befreiungskämpfe im Globalen Südens war, wird er von den Vertreter*innen des Postkolonialismus abgelehnt, da er ihrer Ansicht nach in der Tradition der Aufklärung stehe, die sie für den Kolonialismus mitverantwortlich machen.
Dekolonialistische Ansätze, die in Lateinamerika entwickelt wurden, wo die Kolonialisierung früher begonnen, aber auch früher geendet hat, fokussieren sich mehr auf die Ungleichheit der politischen und wirtschaftlichen Macht, die in Freihandelsabkommen, in Institutionen wie der WTO oder in der internationalen Klimapolitik zum Tragen kommt. Sie erheben zudem den Anspruch, über den akademischen Rahmen hinauszugehen, und nehmen die soziale Praxis zum Bezugspunkt, zum Beispiel indigene Bewegungen. Es geht ihnen aber nicht darum, das europäische Denken abzulehnen, sondern in jeder Region der Welt eine Pluralität des Wissens und Denkens zu schaffen. Durch die Diskussion um buen vivir – das gute Leben, oder feministischen Protestbewegungen wie "Ni una menos" ist diese Bewegung in den letzten Jahren auch in Europa bekannt geworden.
Ökonomische Basis und kultureller Überbau
"Wenn ihr euch fragt, wo der Imperialismus ist, schaut auf eure Teller." (Thomas Sankara)
Das Begriffspaar Basis und Überbau dient in der marxistischen Dialektik zur Unterscheidung zwischen der ökonomischen Existenzgrundlage einerseits und dem ideologischen Überbau andererseits. Demnach bilden die Produktions- und Eigentumsverhältnisse sowie der Austausch und die Verteilung der Produkte die Grundlage einer Gesellschaft, während Staatseinrichtungen, Rechtsanschauungen, politische, religiöse und philosophische Vorstellungen ihren institutionellen, kulturellen und ideologischen Überbau bilden. Das heißt, dass Menschen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion betreiben können.
Heute sind wir mit einer neuen extremen Form von Kolonialismus konfrontiert, der sich hinter Freihandelszonen und Wirtschaftsregimen verbirgt. Die neokoloniale Ausbeutung und Abhängigkeit bilden also die materielle Basis, Eurozentrismus und Rassismus den ideologischen Überbau. Da aber eine Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Ungleichheit beruht, immer irgendwelche Formen der Spaltung und Herabsetzung von Menschen hervorbringen wird, müssen wir die ökonomischen und politischen Verhältnisse verändern. Das bedeutet: Wollen wir den Rassismus bekämpfen, müssen wir die Festung Europa aufbrechen. Um das tun zu können, ist es aber auch nötig, mit alten Ideen und überkommene Annahmen zu brechen. Wir sehen also, dass wir keines für sich allein ändern können.
Dekolonialisierung muss in erster Linie in den betroffenen Ländern stattfinden und tut es auch. Wir beobachten gerade, wie einige afrikanische Staaten dabei sind, sich aus der Abhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht zu befreien, um ihre Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Überall auf der Welt beschäftigen sich Angehörige indigener Kulturen mit der Wiederherstellung ihrer eigenen Kosmologie und ihren verdrängten Sprachen. Nun stellt sich die Frage, was wir zu diesem Prozess hier in Europa beitragen können, wo Parteien immer mehr Zuspruch bekommen, die sich nach der Zeit des Kolonialismus zurücksehnen, wie ein deutscher Politiker in Namibia kürzlich unter Beweis stellte. Was wir jedenfalls tun können und sollten, ist vor unserer eigenen Türe zu kehren und die weltweiten Kämpfe für soziale Gerechtigkeit solidarisch zu unterstützen.