Die böhmischen Ziegelarbeiter und ihr Erbe in Wien

11.01.2023
Foto: Bezirksmuseum Favoriten
Foto: Bezirksmuseum Favoriten

von Franz Fiala

Wer heute durch die schöne Stadt Wien spaziert, bestaunt Gebäude, die von Hunderttausenden Migranten unter oft menschenunwürdigen Bedingungen errichtet worden sind. Was würde man den Touristen von heute zeigen, wenn nicht die Prachtbauten von damals? Und wer den Sozialstaat schätzt, weiß, dass es ursprünglich Migranten waren, die durch die Entdeckung der Solidarität die ersten Bausteine eines fairen Arbeitsrechts erkämpft haben.

Ursachen für die Migration

Bis zum 18. Jahrhundert veränderte sich die Weltbevölkerung wenig, die damalige Welt war europazentriert. Doch danach stellen wir ein weltweites Wachstum der Bevölkerung um etwa 0,5 Prozent pro Jahr fest. In Europa lebten die Menschen überwiegend in ländlichen Gebieten, wo sie durch die "Schollenpflicht", also durch Leibeigenschaft gefangen waren. Mit wachsendem Wissen um die landwirtschaftliche Produktion verbesserten sich die Ernteerträge, und durch die höheren Erträge sank der Preis für die landwirtschaftlichen Produkte. Damit verarmten die Bauern, die immer noch robot- und zehentpflichtig waren.

Bis zum Revolutionsjahr 1848 war die Migration noch relativ gering, doch der Gesetzesantrag des jungen Abgeordneten Hans Kudlich zur Abschaffung der Leibeigenschaft im Sommer 1848 hatte weitreichende Folgen auf das Wachstum der Städte, denn große Teile der verarmten Landbevölkerung verließen ihre Heimat entweder als Auswanderer nach Übersee oder durch Zuzug in die großen Städte. Dieser kontinuierliche Prozess dauert bis heute an. Um 1800 waren 75% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Heute sind es nur mehr 2%.

Prinzipiell unterschied sich die Migration in Wien nicht von der in anderen Ländern, wohl aber im Ausmaß und darin, dass die Einwanderer andere Sprachen hatten als die einheimische Bevölkerung. Während Paris zwischen 1850 bis 1910 von 1,1 Millionen auf das Dreifache (auf fast 3 Millionen) wuchs, war es in Wien das Sechsfache (von 400.000 auf 2,4 Millionen). Wien war damit um 1910 die fünftgrößte Stadt der Welt!

Viel wichtiger noch als das explosive Wachstum war aber die Herkunft der Migranten. Der Zuwachs in anderen europäischen Großstädten erfolgte meist aus dem gleichsprachigen, ländlichen Umland, in Wien aber kamen die Zuwanderer vorwiegend aus dem heutigen Tschechien. Es kamen also Menschen, die zeitlebens wegen ihrer Umgangssprache als Fremde wahrgenommen wurden. Meine Großeltern zum Beispiel, die als 18-Jährige nach Wien gekommen waren, sprachen bis zu ihrem Lebensende nur gebrochen Deutsch. Sie hätten jedem Vergleich mit einer heutigen türkischen Großmutter standgehalten. Auch das Kopftuch war damals nicht unüblich, wie alte Bilder zeigen.

In den ländlichen Vielkinderfamilien übernahmen die ältesten Söhne den Hof, die jüngeren mussten weg. Fürsorgliche Familien ermöglichten ihren Kindern eine Ausbildung, bevor sie den Weg in die große Stadt antraten. Einigen, wie zum Beispiel dem Jungakademiker Kudlich, wurde sogar eine Universitätsausbildung zuteil, während seine Eltern noch zehentpflichtig waren. Mit einer Ausbildung in der Tasche landete man in einem Handwerksbetrieb, die besser Ausgebildeten - wie Alois Miesbach - schafften es bis zum Ziegelbaron. Er war - wie sein Neffe Heinrich Drasche - ebenfalls ein Tscheche. Ohne eine Ausbildung landete man am Bau, im Haushalt oder eben im Ziegelwerk.

Aber es gab einen wichtigen Unterschied zwischen einem Bauarbeiter und einem Ziegelarbeiter. Bauarbeiter lebten in der Stadt, waren Teil der dortigen tschechischen Gemeinde, brauchten eine Wohnung oder wenigstens ein Bett als Bettgeher. Ziegelarbeiter dagegen lebten in der Fabrik und hatten kaum Kontakt mit der Gemeinde, und mit Wien schon gar nicht. Das mag am Anfang, als die Arbeiterwohnhäuser errichtet worden sind, noch einigermaßen erträglich gewesen sein. Das war die Zeit, als die Ziegelbarone Alois Miesbach und sein Neffe Heinrich Drasche wie Patriarchen über das Ziegelimperium herrschten. Diese Herren standen in der Öffentlichkeit, und das Bild, das die Geschichtsbücher von ihnen zeichnen, ist das von Mäzenen, die in den Gemeinden Sozialeinrichtungen wie Krankenhäuser und Kindergärten errichteten und sich damit ein Image als Wohltäter und Gönner aufbauten. Es gibt auch Erzählungen, die berichten, dass sie ihre Verantwortung gegenüber ihren Arbeitern wahrgenommen haben.

Ab dem Jahr 1869 änderte sich die Situation, als Heinrich Drasche seine Ziegeleien in eine Aktiengesellschaft - die "Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft" - umwandelte. Er blieb zwar Ehrenadministrator auf Lebenszeit, widmete sich aber vermehrt seinen Kohlegruben in Böhmen. Er starb 1880, noch vor den uns überlieferten schrecklichen Arbeitsbedingungen.

"Ziegelböhm" - die Sklaven vom Wienerberg

Das Ziegelhandwerk war bis ins 20. Jahrhundert saisonal, im Winter kehrten die Arbeiter meist in ihre Heimatdörfer zurück, mit ihnen gemeinsam auch alle Arbeiter am Bau. Historiker gaben ihnen den Namen "Böhmische Schwalben", die eben im Herbst abziehen, um im Frühling wiederzukommen. Und es kamen sogar ganze Familienpartien. Die Kinder übernahmen die einfacheren Arbeiten wie das Sandeln (Sand in den Model streuen, damit der Ton nicht kleben bleibt) oder das Aufreiben (die nassen Ziegel zum Trocknen in den Trockenhütten aufreihen), die Männer waren Lehmscheiber und brachten den Lehm in Scheibtruhen zu den Schlagtischen, wo die Frauen in einer Stunde etwa 100 Ziegel formten. Dazu kam die Betreuung der Brennöfen durch Brenner, Kohlenzuführer, Einscheiber, Ausscheiber und Lader. Nicht zu vergessen die Maltaweiber, die den Mörtel für das Zumauern der Öfen herstellten. Besonders mühsam war das Lehmtreten, bei dem der trockene Lehm mit Wasser und verschiedenen Zusätzen vermischt und bei jedem Wetter mit bloßen Füßen getreten wurde. Die Fertigung der Ziegel war bis ins 20. Jahrhundert reine Handarbeit. Die Arbeitszeit dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, arbeitsfreie Tage gab es nicht. Bezahlt wurde im Akkord, jeweils für 1000 Ziegel. Einen Grundlohn gab es nicht, eine Erkrankung bedeutete gleichzeitig auch, keinen Lohn zu bekommen.

Das Wachstum der Stadt forderte immer mehr Ziegel. Mehr Ziegel bedeutete, dass mehr Menschen beschäftigt werden mussten. Die Aktiengesellschaft baute für die Arbeiter aber nicht etwa weitere Unterkünfte, sondern unterteilte ein Zimmer, das ursprünglich für eine Familie gedacht war, in Kojen, und später nicht einmal das. "Ringspatzen" nannte man die jungen Männer, die bei jedem Wetter nur mehr einen Schlafplatz am Ringofen bekommen haben.

Der Staat war damals ein so genannter "schlanker Staat". Seine wichtigste Aufgabe sah man in der Aufrechterhaltung von Sitte, Ruhe und Ordnung sowie der Bewahrung des Eigentums. Sozialgesetzgebung oder Arbeitsrecht waren noch nicht erfunden. Es herrschte der freie Markt, Angebot und Nachfrage regelten nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Lohnkosten. Ein Überangebot an Arbeitskräften ließ den Lohn auf ein Minimum sinken. Der Gewinndruck der Börse ließ die Aktiengesellschaft erfinderisch werden, um sogar noch am ohnehin geringen Lohn der Arbeiter mitzuverdienen.

Blechgeld (Trucksystem): Der Lohn wurde nicht in normaler Währung ausgezahlt, sondern in Wertmarken, die nur in werkseigenen Kantinen eingelöst wurden. Jedem Arbeiter war eine ganz bestimmte Kantine zugewiesen. Die Preise in den Kantinen waren gegenüber den Geschäften in der Umgebung deutlich überhöht.

Prämiensystem: Der Name ist wie ein Hohn, klingt er doch so, als würde man - etwa für besondere Leistungen - eine Prämie bekommen. Es war genau umgekehrt, denn ein Teil des Lohns wurde einbehalten, um ihn am Saisonende im November als eine Art "Weihnachtsgeld" auszuzahlen. Eine Auszahlung erfolgte aber nur, wenn es keine Arbeitsunterbrechung gab, daher wurde die Prämie sehr oft nicht ausbezahlt.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Verstöße gegen die Einkaufspflicht die sofortige Kündigung zur Folge hatten, ebenso wie ein unerlaubtes Übernachten im nahegelegenen Ort.

Geburt und Aufstieg der Sozialdemokratie

Es war einem Umstand zu verdanken, der möglicherweise damals in einer Zeit des Turbokapitalismus selten war und auch heute in Zeiten des allgemeinen Wohlstands abhanden zu kommen scheint: Mitgefühl. Victor Adler, ein Arzt aus Wien Alsergrund agitierte gegen die Arbeitsbedingungen in seiner Zeitschrift "Gleichheit". Aber er behandelte auch unentgeltlich Menschen, die sich kein Arzthonorar leisten konnten, und dabei fiel ihm der oft erbärmliche Gesundheitszustand dieser Patienten auf.

Dadurch wurde er auf die Lebensbedingungen der Arbeiter im Süden von Wien aufmerksam. Mit Hilfe des Großvaters von Amalie Pölzer, der späteren ersten Gemeinderätin in Favoriten, konnte er sich am Wienerberg - als Maurer verkleidet - im November 1888 umschauen. Seine Eindrücke beschrieb er im berühmt gewordenen Text in seiner "Gleichheit" vom 1. Dezember 1888 mit "...diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint."

Die schon seit 1874 existierenden Gruppierungen mit sozialistischen Ideen waren bis zu diesem Zeitpunkt zerstritten und in radikale und gemäßigte Gruppierungen aufgespaltet. Ihre Aktivitäten waren zudem durch die behördliche Unterdrückung behindert. Der Appell von Victor Adler ließ sie aber ihre Differenzen begraben, und bereits im Jänner 1889 wurde beim berühmten Einigungsparteitag in Hainfeld die damalige SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) gegründet. Ihr erster Vorsitzender war Victor Adler. Die Ziegelarbeiter am Wienerberg waren also der Auslöser für die Vereinigung der verschiedenen sozialistisch orientierten Gruppierungen.

So wichtig diese Einigung für die Parteigründung war, dauerte es noch weitere sechs Jahre, bis sich an den Lebensbedingungen der Ziegelarbeiter etwas änderte. Die Arbeiter organisierten sich immer mehr, und im April 1895 kam es zu einem Generalstreik in praktisch allen Ziegelwerken südlich von Wien. Es gab beim Einschreiten der Gendarmerie 13 Tote und 13 Festnahmen. Die Arbeiter wurden von der SDAP versorgt. Das Ergebnis: Einführung der Sonntagsruhe, 11-Stunden-Arbeitstag, Einschränkung der Kinderarbeit, arbeitsfreier Erster Mai, Lohnerhöhungen sowie die Abschaffung von Blechgeld und Prämiensystem.

Der aufkeimende Nationalismus

Entlang der Sprachgrenzen entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nationalistische Bewegungen, die es vorher in dieser Form nicht gab. Die Bindung an das habsburgische Kaiserhaus begann zu zerfallen mit den bekannten Folgen. Natürlich sind die Arbeiter*innen schon immer ideologisch der SDAP nahegestanden und sind bis heute überwiegend SPÖ-Wähler*innen. Es ist Victor Adler aber nicht gelungen, die Tschechen als eine eigene Fraktion in die SDAP aufzunehmen. Grund dafür waren die damals mit dem Wachstum der Stadt aufkeimenden Nationalismen: die deutsch-nationalen auf der einen und die tschechisch-nationalen auf der anderen Seite.

Und wo waren die Österreicher? Die gab es damals in unserem heutigen Verständnis noch nicht. Die Anschluss-Idee war eine Folge der verlorenen Schlacht bei Königgrätz (Hradec Králové), denn mit ihrem Ausgang wurde der Deutsche Bund, dem auch das heutige Österreich und Böhmen angehört hatten, aufgelöst und damit die viele Hunderte Jahre währende Zugehörigkeit der österreichischen Länder zum Deutschen Bund von Preußen als beendet erklärt. Das führte zur Teilung der Monarchie in einen österreichisch-böhmischen und einen ungarisch-kroatisch-serbischen Teil, die k.u.k. Monarchie war geboren, und mit diesem Datum nahmen auch die nationalistischen Trennungsideen zu. In Österreich war das nicht etwa die Idee eines eigenen Staates, wie das bei den Tschechen der Fall war, sondern es war die Idee von einem Anschluss an Deutschland.

Wir dürfen nun diese Idee von damals nicht aus unserem heutigen Blickwinkel sehen. Damals war der Anschlussgedanke eine Idee, die tatsächlich quer durch alle Parteien verlief, und noch 1923, nach dem Aus für den Namen Deutsch-Österreich und das von Österreich beanspruchte Staatsgebiet, bekräftigten alle Parteien im damaligen Parlament, dass sie einen späteren Anschluss an Deutschland anstreben würden.

Die nationalistische Front hatte ihren größten Kampfplatz in Wien. Juden und Tschechen waren die erklärten Feinde. Der Deutsch-Nationalismus auf der einen Seite hatte einen ebenso sturen tschechischen als Gegenüber. Den Höhepunkt erreichten diese Konflikte unter Bürgermeister Karl Lueger, dessen Bestellung der Kaiser wegen seiner Rassismen vier Mal verweigert hatte, der aber mit jeder dieser Zurückweisungen populärer wurde.

Bedenkt man, dass die meisten der ca. 150.000 nicht in Wien sesshaften Arbeiter*innen - also hauptsächlich die Ziegel- und Bauarbeiter - nach dem Ersten Weltkrieg die hungernde Stadt verlassen haben und in der damals neu gegründeten Tschechoslowakei Arbeit suchten, könnte man ihre Rolle als die eines Katalysators beschreiben, der eine Reaktion allein durch seine Anwesenheit in Gang setzt. Jahraus, jahrein zogen die "Böhmischen Schwalben" nach Wien, bis sie nach 1918 mangels Bedarfs nicht mehr wiedergekommen sind. Aber die Anfänge des Sozialstaats, zu deren Gründung sie beigetragen haben, sind uns bis heute erhalten geblieben.

"Echte Wiener"

Mit dem Ende der Ziegelära im Wiener Raum in den 1960er Jahren wurden die ehemaligen Ziegelwerke ziemlich radikal geschleift, kein einziger der einst mächtigen Schlote und Ringöfen ist erhalten geblieben. An ihrer Stelle entstanden an ehemaligen Ziegelteichen Einkaufszentren, Hotels, Naherholungsgebiete, Sportsstätten, Wohnhausanlagen, paradiesisch anmutende Kleingartenanlagen, exklusive Ressorts. Es gibt nur mehr wenige Zeitzeugen, die hinter diesen modernen Paradiesen das frühere Elend erahnen können.

Wer jedoch das Wiener Telefonbuch studiert, wird feststellen, dass gut ein Viertel der Namen tschechischen Ursprungs sind. Bedenkt man noch die andere Hälfte, die durch den Assimilationsprozess durch deutsche Namen verdeckt ist, können wir schätzen, dass die Hälfte der heutigen Wiener Bevölkerung Tschechen in der näheren oder ferneren Verwandtschaft hat. In gewisser Weise sind wir alle ihre Nachfahren und Erben. Wer weiß, wer der Landespatron von Wien ist? Nun, die meisten würden wohl auf den Heiligen Leopold tippen, doch der "gehört" den Niederösterreichern. Da Wien seit 1920 den Status eines eigenen Bundeslandes hat, brauchte es einen eigenen Stadtpatron, und der ist seit diesen Tagen Klemens Maria Hofbauer, Sohn des böhmischen Fleischhauers Pavel Dvořák, der seinem Sohn den gleichbedeutenden deutschen Namen "Hofbauer" gab. Die Künstler Fritz Wotruba und Maxi Böhm, die Politiker Karl Renner, Franz Jonas, Bruno Marek, Felix Slavik, Helmut Zilk, Ferdinand Lacina und Karl Blecha, die Fußballer Matthias Sindelar und Walter Zeman (beide Kinder von Ziegelböhm) und nicht zu vergessen die Kultgastronomen Kolařík und Buben (Schweizerhaus) und Prousek (Aida) stehen stellvertretende für viele weitere, die heute für den "Echten Wiener" stehen - eine kreative Mischung aus den Völkern der frühen Monarchie, allen voran der Tschechen und Mährer.

Entstanden ist der Ausdruck "Echter Wiener" aber in der Zeit Karl Luegers als Zeichen der Abgrenzung gegen die damaligen Migranten. Heute empfinden wir diese Bezeichnung aber als ein Integrationssymbol für die damals als Bedrohung empfundenen Tschechen. Es wird noch eine Zeit dauern, bis man den "Echten Wiener" auch auf die heutigen Migranten wird anwenden können. Bruno Kreisky, dessen mütterliche Familie "Felix" aus Mähren stammte, ein Name, der uns heute noch in den Supermärkten als gleichnamige Lebensmittelmarke bekannt ist, beschrieb den Integrationsprozess der Wiener Tschechen am 28. März 1977 so: "Die Wiener Tschechen haben in einer so einzigartigen Weise das Antlitz Wiens mitgeformt und so auch das Bild Österreichs mitgestaltet, dass ich kaum ein anderes Beispiel auf diesem Kontinent kenne, das einem ähnlichen Integrationsprozess der Völker unterworfen wäre."

Damals und heute

Ich war selbst ein Migrantenkind, nur hat mir das niemand bewusst gemacht. Weder in der Familie, denn dort war es selbstverständlich, dass Tschechisch gesprochen wurde und alle Verwandten und Freunde aus der tschechischen Parallelgesellschaft kamen, noch im Gymnasium, das ich besuchte. Heute gibt es wieder ein tschechisches Gymnasium, und meine Eltern würden mich wohl in dieses Gymnasium geschickt haben. Damals aber kam ich als Kind, das Deutsch in der Volksschule als Fremdsprache erlernt hat, in eine völlig neue Umgebung. Bemerkenswert war, dass man mir sicher angemerkt hat, dass ich nicht "von da" war, doch niemand hat mir das zum Vorwurf gemacht oder mich deshalb in irgendeiner Form ausgegrenzt.

Das fühlt sich im Zusammenleben zwischen Migrant*innen und Wiener*innen heute oft anders an. Es ist, als ob die Sager des Populisten Lueger im Vokabular heutiger Rechtspolitikern eine Zeitreise unternommen hätten, so zum Verwechseln ähnlich ist die Stimmung heute im Vergleich mit den Berichten der Zeit um 1900. Man kam damals zum Beispiel auf die kreative Idee, von Juden und Tschechen das Vierfache bei einer Krankenhausbehandlung abzuverlangen und ihnen den Betrieb eigener Schulen zu verunmöglichen. Zwangsassimilation durch Eindeutschung von Namen, Bindung des Wiener Heimatrechts an Treueschwüre für das Deutschtum, Geringschätzung der Tschechen im Allgemeinen, Handgreiflichkeiten, tätliche Übergriffe ... alles das war um 1900 ganz normal.

Man kann sich bei der Beobachtung unseres Umgangs mit den heutigen Migrant*innen des Eindrucks nicht erwehren, dass es alles das schon einmal gegeben hat, und dass der Lernprozess nur ein sehr langsamer ist. Je mehr man sich gegen Migrant*innen positioniert, desto stärker wird deren Reaktion des sich Zurückziehens in eine Parallelwelt, die ihnen Geborgenheit bietet. Auch das Kopftuch ist eine Art Symbol für diese Haltung. Alle diese Aktionen und Reaktionen hat es seinerzeit schon bei den Tschechen gegeben.

Ein wichtiger Unterschied zum damaligen Assimilations- und Integrationsprozess ist die Religion der Zuwanderer, und mehr noch die Wichtigkeit, die diese als Schutzmantel gegen die oft unfreundliche und feindselige Umgebung besitzt. Religion, besonders eine ausgrenzende, die Ehen mit anderen Kulturen praktisch verbietet, verlangsamt eine natürliche Assimilation. Ein gewisses Maß an Assimilation wäre jedoch ein Prozess, der für das gegenseitige kulturelle Verständnis sehr wichtig wäre. Meine persönliche Vision ist daher, dass wir "religion" klein schreiben sollten. Wir können uns - Christen und Muslime - gerne an diese frühere Geborgenheit im Schoße unserer jeweiligen Religion erinnern, aber um zu entscheiden, was gut oder schlecht ist, sollten wir unseren Verstand benutzen und nicht auf Prediger jedweder Richtung hören. Kirchen und Moscheen gehören meiner Meinung nach ebenso wie Kriege ins Museum - wie es eine Werbebotschaft des Heeresgeschichtlichen Museums im Wiener Hauptbahnhof ausdrückt.

Mein persönlicher Hintergrund

Meine Großeltern kamen um 1900 nach Wien. Sie lebten immer in einer tschechischen Parallelwelt. Sie hatten ein Lebensmittelgeschäft. Ihre Kunden waren Tschechen. Ihr Bekanntenkreis waren Tschechen. Unser Hausarzt war Tscheche. Die Wirtshäuser waren tschechisch. Sie sprachen nur sehr schlechtes Deutsch. Meine Eltern wurden ausschließlich in Wiener tschechischen Schulen ausgebildet, aber der Anteil ihrer tschechischen Kunden nahm während der Kriegsjahre und nach der letzten großen Rückwanderwelle nach dem Zweiten Weltkrieg stark ab. Ich selbst besuchte noch die Tschechische Schule.

Meine "Expertise" in Sachen Ziegelarbeiter besteht daher nur im Umstand, dass ich jene Person in der langen Linie einer Familie bin, die den Übergang von einer Kultur (der tschechischen) in eine andere (die österreichische) in einer heute nicht bekannten sanften Art geschafft hat. Das hatte ich dem ausgezeichneten tschechischen Schulsystem in Wien zu verdanken, das bereits seit 1923 in dieser Form existiert, und das alle Konflikte zwischen verschiedensprachigen Kindern in den Volksschulen wie wir sie heute in Wien erleben, vermeidet, weil sie dem fremdsprachigen Kind muttersprachlichen Unterricht bietet.

Die Kinder werden also in der Muttersprache alphabetisiert und erlernen gleichzeitig in den vier Volksschuljahren Deutsch als Fremdsprache, was ihnen im Alter von zehn Jahren den Übertritt in jede andere Schulform ermöglicht. Dieses Modell, das heute in den tschechischen, französischen und englischen Schulen in Wien angewendet wird, wäre eine jahrzehntelang praktizierte und bewährte Methode der unauffälligen Integration und Förderung der Migrantenkinder, denn wir hätten damit eine zweisprachig ausgebildete Jugend mit den damit verbundenen größeren Chancen für ihren späteren Beruf. Solche Schulen mit zum Beispiel türkischer Unterrichtssprache gibt es aber nicht, sie wären heute ebenso wenig durchsetzbar, wie sie seinerzeit unter Lueger auf erbitterten Widerstand gestoßen sind.

Meine tschechische Kindheit war weder im Beruf noch im Privatleben ein Thema - bis zu dem Zeitpunkt als die Geister von früher wieder Einzug in die Politik hielten und man begann, das Trennende wieder wichtiger zu nehmen als das Verbindende. Solidarität und Mitgefühl trat in den Hintergrund gegenüber dem Wunsch, sich über andere zu stellen, etwas, das für mich als überwunden galt. Heute ist mir angesichts nationalistischer Züge in der Politik mehr denn je bewusst geworden, dass ja eigentlich ich derjenige bin, den die Politiker meinen, wenn sie wieder etwas gegen illegale Zuwanderer ausspucken, um im Geiste von Karl Lueger die niedrigen Instinkte der Menschen für ihren Machterhalt ansprechen, und deren Wähler die Botschaften dankbar annehmen statt sich angewidert abzuwenden. Es geht mir also darum, das Leid der vielen Generationen aufzuzeigen, von denen wir eine der lebenswertesten Städte und Soziotope der Welt geerbt haben, um zu verhindern, dass sich die schrecklichen Dinge, die hier passiert sind, nicht widerholen mögen.

mehr dazu: fiala.cc/franz/erinnerungen/tschechen-in-wien

veröffentlicht in Talktogether Nr. 68/69 - 2019