Corona-Pandemie: globale Krise und Weckruf

29.05.2020
Das Corona-Virus (COVID-19) hat zu tiefgreifenden Veränderungen in allen Bereichen unseres Lebens geführt. Die Krise offenbart uns, wie anfällig unser System ist und welche Gefahren es für die Bevölkerung birgt. Regierungen, Medien und die meisten medizinischen Einrichtungen sind jedoch so auf den Notfall konzentriert, dass die strukturellen Ursachen für diese Krise meist außer Acht gelassen werden. Die Corona-Pandemie hat nämlich dieselben Ursachen wie der Klimawandel und die maroden Gesundheitssysteme. Trotz all des Leids, der Ängste und Belastungen hat die Krise aber auch eine positive Seite: Die Natur erholt sich und wir denken darüber nach, was für unser Leben wirklich wichtig ist.

Woher kommt das Corona-Virus?

Viren sind organische Strukturen, die keinen eigenen Stoffwechsel haben und sich nur innerhalb einer geeigneten Wirtszelle vermehren können. Der menschliche Körper trägt nicht nur eine Vielzahl von Bakterien, sondern auch Viren in sich. Die gleichen Viren, die uns krank machen, können sich auch dauerhaft im menschlichen Körper niederlassen, ohne dabei Krankheitssymptome hervorzurufen. Die Spanische Grippe, die am Ende des ersten Weltkriegs weltweit 50 Millionen Opfer forderte, zeigte jedoch, wie sich Viren an die Verhältnisse anpassen und immer tödlicher werden können, wenn sie auf große Menschenmassen mit geschwächten Abwehrkräften stoßen.

An die 75 Prozent der neuen Virusinfektionen sind Zoonosen - Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden. Diese nehmen zu, da die Welt weiterhin eine beispiellose Zerstörung freier Lebensräume durch menschliche Aktivitäten erlebt, sagt Doreen Robinson, Leiterin des Bereichs Wildtiere beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen. Es gibt Vermutungen, dass Fledermäuse oder Schuppentiere die ursprünglichen Träger des Covid-19 Virus waren. Auch die Viren, die Ebola, HIV, Zika oder die Vogelgrippe auslösen, kamen ursprünglich in Tieren vor, die in tropischen Regenwäldern heimisch sind.

Weltweit werden die letzten Urwälder und von Kleinbauern bewirtschaftete Landflächen von der industriellen Agrowirtschaft in Besitz genommen. Die starke Landnutzung, Waldrodungen und Monokulturen fördern die Entstehung von Epidemien, ist die Virologin Sandra Junglen überzeugt, die an der Berliner Charité über die Ökologie und Evolution von Viren forscht. Werden die Lebensräume der Wildtiere und intakte Ökosysteme zerstört, führt das zu einem Verlust der Artenvielfalt, so dass Krankheitserreger, die zuvor in den Waldökosystemen gebunden waren, auf die lokale Viehzucht und menschliche Gemeinschaften überspringen können. An einen neuen Wirt müssen sich die Viren aber erst anpassen, das geschieht durch Veränderungen des Genoms - so genannte Mutationen. Die Zunahme der Bevölkerungsdichte und der Mobilität der Menschen sorgt dann dafür, dass aus einer Infektionskrankheit eine Pandemie wird, die die ganze Welt bedroht.

Ein weiterer Faktor, der den Ausbruch von Pandemien fördert, ist die Massentierhaltung. Die große Zahl von Tieren, die auf engem Raum oft unter unhygienischen Bedingungen zusammengepfercht werden, begünstigt nicht nur die schnelle Übertragung und Vermischung von Viren, sondern auch deren Mutation. Und da heute immer mehr Menschen in Städten leben und Lebensmittel konsumieren, die industriell erzeugt und über den ganzen Erdball transportiert werden, ist eine weltweite Ausbreitung von Krankheitserregern dann kaum noch aufzuhalten. Die Agro-Konzerne müssen jedoch nicht für die Konsequenzen ihrer gefährlichen Machenschaften einstehen und können die Kosten anderen aufbürden: Der Natur, den lokalen Gemeinschaften, den Konsument*innen sowie dem Gesundheitspersonal, die dann mit den Folgen umgehen müssen.

Corona und Umwelteinflüsse

Es ist kein Zufall, dass gerade Norditalien von der Krise so hart getroffen ist, meint der österreichische Umweltbiologe Clemens Arvay. Die Po-Ebene ist eine Region, die von extremer Feinstaubbelastung betroffen ist, viele ältere Menschen dort haben bereits vor dem Ausbruch von Corona an Atemwegserkrankungen gelitten. Man weiß, dass sich Viren an Feinstaubpartikel heften und sich so verbreiten. Gleichzeitig schwächen Feinstaub und andere schädliche Umwelteinflüsse nachweislich das Immunsystem der Menschen. Und dies betreffe nicht nur das Corona-Virus, sondern auch die Influenza-Viren, die von Jahr zu Jahr gefährlicher werden. In den letzten Jahren forderte die sogenannte Grippewelle in stark belasteten Gebieten wie in der norditalienischen Po-Ebene die meisten Todesopfer, nur wurde das bisher nicht so beachtet, meint Arvay. Dass die Weltöffentlichkeit jetzt so genau hinsieht, sei eine Chance.

Der belgische Umweltschützer François Gemenne wundert sich, wie schnell Regierungen reagieren, wenn die Menschen und ihr Wirtschaftssystem krank werden. "Warum haben wir vor dem Corona-Virus so viel mehr Angst als vor dem Klimawandel und der Verschmutzung der Atmosphäre?" Mehr als 11.000 Wissenschaftler*innen aus 153 Ländern warnen seit Jahren und Jahrzehnten, dass die globale Klimaerwärmung Kettenreaktionen auslösen kann, die signifikante Erschütterungen des Ökosystems zur Folge haben und große Gebiete unserer Erde unbewohnbar machen können. Schätzungen der WHO zufolge sterben außerdem jedes Jahr weltweit sieben Millionen Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung. Allein in China haben die Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus - wie Produktionsrückgang und Reisebeschränkungen - die Emissionen um 100 Millionen Tonnen reduziert. Zwei Monate Lockdown könnten somit mehr Menschen das Leben gerettet haben als durch das Virus gestorben sind.

Atempause für die Natur?

Das Wasser in den Kanälen von Venedig ist so sauber wie noch nie. Seitdem keine Frachter mehr fahren, sind Delfine zurückgekehrt und man kann Millionen kleiner Fische sehen. Auf Satellitenaufnahmen ist in Norditalien ein deutlicher Rückgang der Luftverschmutzung zu erkennen. Aufnahmen, die zeigen, wie sauber die Luft in China innerhalb von ein paar Wochen geworden ist, sind um die Welt gegangen. Man stellt aber auch fest, wie rasch sich das alles wieder ändert, sobald die Restriktionen gelockert und die Produktionen wieder aufgenommen werden.

Weniger Reisen, weniger Flüge und weniger industrielle Produktion bedeuten sowohl weniger CO2-Emissionen als auch weniger Feinstaubbelastung. Der Rückgang der Produktion hatte zudem den Effekt, dass weniger Material um die Welt geschifft und weniger Abfälle in Mülldeponien gelandet sind. Auch die Buchungen für Kreuzfahrten sind eingebrochen. Kreuzfahrtschiffe fahren mit Schweröl, dem schmutzigsten und umweltschädlichsten Treibstoff, sie verpesten die Luft und zerstören wertvolle und fragile Ökosysteme in der Arktis, in der Karibik oder auf den Galapagos Inseln. Die europäische Kreuzfahrtflotte erzeugt mehr Luftverschmutzung als alle europäischen Autos zusammen! Gleichzeitig ist der Flugverkehr zum ersten Mal seit 2009 zurückgegangen. Es scheint, dass dieses kleine unsichtbare Virus mehr erreicht hat, als alle politischen Maßnahmen, Klimakonferenzen und Appelle von Wissenschaftler*innen und Klimaaktivist*innen. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass diese kurze Unterbrechung langfristige Auswirkungen hat.

Was wir aus der Krise lernen könnten

Dass sich das Coronavirus nicht von Slums der "Dritten Welt", sondern von hochindustrialisierten Regionen aus verbreitet und auf Kreuzfahrtschiffen, in Wintersportorten und sogar bei Treffen hochrangiger Politiker übertragen wurde, zeigt uns, dass das Virus niemanden verschont. Es erinnert uns daran, dass wir ein Teil der Natur sind. Wir erleben uns als verletzlich und erkennen, dass die Sicherheit und die Kontrolle, in der wir zu leben glaubten, nur eine Illusion waren. Es ist einerseits ein Symbol für die Problematik der globalisierten Ökonomie, andrerseits aber auch ein Signal dafür, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Krisen können eine Chance sein und uns Möglichkeiten für einen Neuanfang aufzeigen, aber nur wenn wir bereit sind, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Das Virus hat uns vieles vor Augen geführt. Es hat uns gezeigt, wie gefährlich ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind. Es hat uns gezeigt, wie abhängig voneinander wir in unserer globalisierten Welt heute sind. Es hat uns gezeigt, wie gefährlich es sein kann, bei lebenswichtigen Produkten von just-in-time-Lieferungen abhängig zu sein. Es hat uns aber auch Alternativen aufgezeigt. Einige Industriebetriebe haben auf die Krise reagiert und ihre Produktion umgestellt: Parfumerzeiger produzierten Desinfektionsmittel und Autohersteller Beatmungsmaschinen. Und so sehen wir, dass es möglich ist, Produktionen umzustellen, um jene Güter zu produzieren, die die Menschen wirklich brauchen.

Staaten, deren Gesundheitssystem überlastet ist, sind dankbar für die Hilfe chinesischer oder kubanischer Ärzte. Auch die Entwicklung von Tests, Medikamenten und Impfungen fordert eine internationale Vernetzung und Zusammenarbeit. Die Auswirkungen der Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten sowie die Konkurrenz zwischen den profitorientierten Pharmakonzernen sind jedoch tödlich. Zudem ist kaum abzuschätzen, für wie viele Todesopfer die US-Sanktionen verantwortlich sind. Die Corona-Krise ist nur durch gemeinsame Anstrengungen zu bewältigen und fordert - genau wie der Klimanotstand - ein Ende der herrschenden Ideologie, die Individuen, Nationalstaaten und Kontinente in ein Konkurrenzverhältnis zueinander zwingt.

Die Corona-Krise führt uns auch vor Augen, welche Berufe für unsere Gesellschaft wirklich relevant sind. Zu einem großen Teil sind es Frauen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Sie leisten in der Pflege, im Lebensmittelhandel und in der Reinigung lebenswichtige Arbeit unter schwersten Bedingungen und hohem Risiko. Außerdem zeigt uns die Krise das Dilemma unseres Altenbetreuungssystems auf. Die Frauen, die ihre eigenen Kinder, Eltern und Großeltern zurückgelassen mussten, um bei uns Alte und Pflegebedürftige zu betreuen, konnten wegen geschlossener Grenzen nicht einreisen. Dieselben Frauen, denen man die Familienbeihilfe gekürzt hat, wurden sogar mit Flugzeugen eingeflogen. Das zeigt uns, wie dringend es notwendig ist, menschenwürdige und faire Alternativen zu diesem System zu finden.

Wie Krankheiten Gesellschaften verändern können

Infektionskrankheiten waren immer Teil des menschlichen Lebens. Seitdem sie sesshaft geworden sind und in großen Siedlungen leben - also seit rund 10.000 Jahren - werden die Menschen von Epidemien geplagt. Im Mittelalter hat die Pest die europäische Bevölkerung mancher Regionen bis auf die Hälfte reduziert. Auch die Pest wurde von Tieren (Ratten und Flöhen) auf den Menschen übertragen.

Krankheiten können aber auch Gesellschaften nachhaltig verändern. Die große Pestwelle im 14. Jahrhundert hat die Menschen nicht nur zu Hygienemaßnahmen gezwungen, der massive Bevölkerungseinbruch hat auch zu sozialen Umwälzungen geführt. Die Überlebenden waren nicht mehr bereit, unter den alten Bedingungen zu arbeiten, und forderten höhere Löhne. Die Handwerkszünfte sahen sich gezwungen, auch Mitglieder zuzulassen, denen man zuvor die Aufnahme verweigert hatte. Unter dem Druck des Arbeitskräftemangels wurden auch die Lasten der leibeigenen Bauern vermindert und ihnen größere rechtliche und wirtschaftliche Spielräume eröffnet. In England führte der große Bauernaufstand von 1381 zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Wird auch diese Krise den Menschen in "systemrelevanten" Berufen zu mehr Selbstbewusstsein und gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen, um eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit sowie eine angemessene Bezahlung einfordern zu können?

Das Corona-Virus zeigt nicht nur viele Probleme unseres Gesellschaftssystems auf, sondern lässt uns auch einen Blick auf Lösungsansätze werfen. Afrikanische Fischer profitieren von der Angst vor Covid-19, weil Konsument*innen keinen Tiefkühlfisch aus China mehr kaufen. Dass der Westen mit seinem eigenen Überleben beschäftigt ist, gibt afrikanischen Staaten zudem die Möglichkeit, eigene Produktionen aufzubauen und sich von der Abhängigkeit von Importprodukten zu befreien. Werden sie diese Chance nützen?

Hören wir die Signale?

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass uns die aktuellen Notmaßnahmen nicht vor zukünftigen Krisen schützen. Die besten Maßnahmen, um Pandemien vorzubeugen, sind nämlich nicht Abstand halten, Händewaschen oder Schutzmasken, sondern ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, in dem der Schutz der Menschen und der Natur Vorrang vor wirtschaftlichem Wachstum hat, und in dem die Produktion von den Bedürfnissen der Menschen und nicht von den Profitinteressen multinationaler Konzerne gesteuert wird.

Das Virus lehrt uns, dass die menschliche Gesundheit mit der Gesundheit der natürlichen Umwelt untrennbar verbunden ist. Um einem neuerlichen Ausbruch eines Corona-Virus vorzubeugen, brauchen wir dieselben Schritte wie zur Bewältigung der Klimakrise. Das Ziel sollte deshalb nicht sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten im internationalen Konkurrenzkampf zu sichern, damit wir nach der Krise so weitermachen können wie bisher, sondern die Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems in Angriff zu nehmen.

Zweifellos birgt die Krise auch große Gefahren. Es ist zu befürchten, dass manche Staaten die Überwachungsmaßnahmen, die sie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eingeführt haben, auch nach der Krisenzeit beibehalten werden. Wird es uns gelingen, eine Aushöhlung der Demokratie zu verhindern? Und wenn es jetzt so rasch geklappt hat, auf Online-Arbeit und Online-Unterricht umzustellen, was sollte Unternehmen und Universitäten davon abhalten, weitere Einsparungen vorzunehmen und uns immer mehr voneinander zu isolieren? Wie unser Leben nach Corona aussehen wird, hängt also davon ab, welche Konsequenzen wir aus der Krise ziehen.

Da die Entwicklung eines Impfstoffes viel Zeit benötigen wird, dürfen wir nicht mit einem raschen Ende rechnen. In einigen Ländern haben aber die von den Regierungen verhängten autoritären und oft repressiven Maßnahmen mehr Opfer verursacht als das Virus selbst: Die Ausgangssperren führen zu Hunger und unbeschreiblichem Elend für jene Menschen, die in prekären Verhältnissen und ohne soziale Absicherung leben, viele Menschen sterben, weil sie nicht in die Krankenhäuser können, oder werden Opfer von Polizeigewalt. Finanzexperten rechnen zudem damit, dass der gesundheitlichen Krise eine weltweite Rezession folgen wird, die sich schon seit Jahren anbahnt und für die das Virus nur ein Auslöser ist. Wie wird unsere Welt danach aussehen? Werden sich die Ungleichheiten weiter vertiefen, oder wird es uns gelingen, notwendige Veränderungen unserer ungerechten und zerstörerischen Wirtschaftsweise zu erkämpfen?

Die Corona-Krise ist ein Weckruf, der uns zeigt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem - insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung - nicht in der Lage ist, die Gesundheit von uns als Individuen oder als Gesellschaften zu schützen. Derzeit sieht es leider nicht danach aus, dass die politisch Verantwortlichen eine Abkehr vom neoliberalen Dogma nach der Krise in Erwägung ziehen. Andererseits haben viele Menschen durch die Krise begonnen, das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, kritisch zu hinterfragen. Wenn wir in Zukunft nicht von einer Krise in die andere schlittern wollen, brauchen wir tiefgreifende Veränderungen unseres dem Untergang geweihten Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Deshalb sollten wir uns nicht länger darauf verlassen, dass uns die herrschende Klasse schützt, sondern müssen unsere Macht erkennen und selbst zu handeln beginnen. Wir haben gesehen, dass die Menschen in der Lage sind, sich durch eine Krise zu verändern, und das kann uns Kraft und Hoffnung geben.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 72/2020

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