Bolivien: Mit der Bibel gegen Pachamama

23.04.2020

War der Rücktritt von Evo Morales ein Putsch? Es fehlten zwar die klassischen Merkmale eines Putschs: Das Militär hat nicht das Parlament gestürmt und alle Anwesenden getötet oder in Folterlager gesteckt. Doch die Rechten haben dazugelernt: Sie sprechen heute über Wahlbetrug oder bedrohte Meinungsfreiheit und vereinnahmen Straßenproteste, um ihren Aktionen einen demokratischen Anstrich zu verleihen. Aber egal, ob man es nun Putsch nennt oder nicht: In Bolivien herrscht heute ein Klima der Angst. Die indigene Bevölkerung, die unter der Regierung von Morales einen Aufstieg erlebte, fürchtet um ihre Rechte.


Seit dem 12. November ist Evo Morales im Exil. Nur wenige Stunden nach seinem erzwungenen Rücktritt proklamierte sich Jeanine Áñez selbst zur neuen Präsidentin. Als sie vor die Presse trat, ließ sie sich mit einem riesigen Buch mit dem Titel "Die vier Evangelien" fotografieren. Derselben Symbolik bediente sich auch Fernando Camacho, als er mit einer Bibel in der Hand niederkniete und verkündete: "Wir werden Pachamama für immer aus dem Regierungspalast vertreiben." Dann verbrannte er die wiphala, die vielfarbige Fahne, die seit der Präsidentschaft von Evo Morales für die Vielfalt der indigenen Völker Boliviens steht. Polizisten schnitten die wiphala aus ihren Abzeichen, und die selbsternannte Übergangspräsidentin drückte ihre Verachtung auf Twitter aus: "Die Stadt ist nichts für die Indianer. Sie sollten im Hochland bleiben!"

Die Göttin Pachamama wird von den indigenen Völkern der südamerikanischen Anden als "Mutter Erde" verehrt und als Symbol für ihre Identität und den Widerstand gegen die koloniale Unterdrückung angesehen. Wenn sich Áñez und Camacho auf die Christianisierung des 16. und 17. Jahrhunderts beziehen, geht es ihnen wohl weniger um die Religion als um ihre in der Kolonialzeit erworbenen Privilegien, die durch die Umverteilungspolitik von Evo Morales geschmälert wurden. Sie sind nicht bereit, die Macht zu teilen. Wenn es nach ihnen geht, würden sie allein von den Reichtümern des Landes profitieren.

Indigener Feminismus

In Folge des Putsches leidet die indigene Bevölkerung unter der Verschärfung des Rassismus, beklagt die indigene Feministin Adriana Guzmána Arroyo. Vor allem Frauen, die die pollera - den traditionellen Rock der Aymara- und Quechua-Frauen - tragen, können nicht mehr ohne Angst vor Beschimpfungen und Angriffen auf die Straße gehen. Viele nutzen die Situation aus, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, als ob sie eine Kriminelle sei. Andererseits habe man Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen und zwölf Vergewaltiger blieben straffrei. 1)

Adriana Guzmán Arroyo ist eine der bekanntesten Stimmen der Bewegung Feminismo Comunitario Antipatriarcal, die sich in Folge des Massakers im Gaskrieg 2003 gebildet hat. Diese tritt für einen indigenen Feminismus ein, der vom Prinzip der und Kollektivität geprägt ist und das patriarchalische, kapitalistische System bekämpft, das den lateinamerikanischen Völkern mit der Kolonialisierung aufgezwungen wurde.

"Der Putsch war wie eine erneute Kolonialisierung. Wenn der Putsch Erfolg hat, müssen wir wieder unsere Köpfe senken und werden aus allen Bereichen ausgeschlossen sein", befürchtet Arroyo. Die indigene Bevölkerung ist empört, weil 34 Menschen ermordet und die Täter nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiter- und Frauenorganisationen haben Widerstand gegen die "Putschregierung" angekündigt. Allerdings fehlt ihnen heute die Einigkeit, die es im Gaskrieg 2003 gegeben hatte, weil sie 13 Jahre lang Teil eines Staates waren, in dem es große Machtkämpfe und Konkurrenz gegeben hat.

Zu den von Feministinnen heftig kritisierten sexistischen Aussagen von Morales meint sie: "Evos Machismus war bekannt. Schlimm genug, wenn es vom Präsidenten kommt. Doch Evo ist kein Patriarch. Camacho ist ein Fundamentalist, ein ausbeuterischer Geschäftsmann und Patriarch, auch wenn er in seinen Äußerungen Frauen gegenüber respektvoll ist. Machismus ist ein Verhalten, wogegen das Patriarchat etwas Strukturelles ist, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht."

Die Grundideen des gegenwärtigen Feminismus in Lateinamerika kamen mit den rechtsgerichteten Diktaturen in den 1970er Jahren auf. Frauen, die sich öffentlich politisch engagierten, kämpften nicht nur für ihre Rechte als Frauen, sie wehren sich gegen ein Gesellschaftsmodell, das sich auf den Gegensatz zwischen Unterdrückern und Unterdrückten begründet. Sie kritisierten die eurozentristische Sichtweise, dass der Feminismus mit der französischen Revolution begonnen habe.

Der westliche Feminismus ist vor allem durch den Kampf für individuelle Rechte und Freiheiten gekennzeichnet. Doch was nützen all diese Rechte den Frauen, wenn sie ihnen nicht ermöglichen, die realen gesellschaftlichen Verhältnisse - die soziale Ungleichheit, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung - zu verändern? Auf der Weltfrauenkonferenz 1975 in Mexiko brachte dies die bolivianische Arbeiterführerin Domitila Barrios de Chúngara zum Ausdruck, als sie eine Frau aus der Oberschicht ansprach: "Sagen Sie mir bitte, Señora, hat Ihre Lage Ähnlichkeit mit der meinen? Über welche Gleichheit werden wir reden?"

Verhängnisvoller Reichtum

Fünf Jahrhunderte lang war der natürliche Reichtum Boliviens ein Fluch für die EinwohnerInnen. In Potosí, in 4.000 Meter Höhe, haben schon die Inkas Silber gefördert. Im 16. Jahrhundert übernahmen die Spanier das Bergwerk. Die Minenarbeiter, die nicht lange lebten, habendie spanische Krone finanziert, flämische, genuesische und Augsburger Bankiers reich gemacht und die Industrialisierung Europas überhaupt erst ermöglicht. Im 20. Jahrhundert waren es bolivianische Zinnbarone und ausländische Firmen, die Kapital aus den Minen schlugen, während den Indigenen nur die gefährliche und schlecht bezahlte Arbeit blieb. Während die Lungen der Minenarbeiter durch den giftigen Staub zerstört wurden, verkaufte die bolivianische Regierung im Zweiten Weltkrieg das kostbare Mineral an die Alliierten um ein Zehntel des üblichen Preises. Die Löhne wurden praktisch auf Null gesetzt, die Streiks der Arbeiter mit Maschinengewehren und blutigen Massakern niedergedrückt.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem ein Volk nicht länger bereit ist, die Unterdrückung zu ertragen. Zuerst entflammte im Jahr 2000 ein Volksaufstand in Cochabamba gegen die Privatisierung des Wassers. Nachdem die Wasservorräte an einen US-Konzern verkauft wurden, stiegen die Preise so an, dass die Menschen sich das Wasser kaum noch leisten konnten. Der Bevölkerung gelang es, ihr Wasser wieder zurückzuerobern. Drei Jahre später begann der Gaskrieg. Der Zorn der Bevölkerung kochte über, als die Regierung den Verkauf der natürlichen Erdgasvorkommen an ein internationales Konsortium ankündigte. Die Versuche der Regierung, die Proteste mit blutiger Gewalt niederzuschlagen, führten zur Solidarisierung weiterer Volksschichten mit den Demonstrierenden, so dass Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada, einem Millionär und Eigentümer der größten privaten Minengesellschaft des Landes, schließlich nichts anderes übrig blieb, als in die USA zu fliehen.

Sozialismus mit Widersprüchen

Mit seinem Wahlsieg im Mai 2006 wurde mit Evo Morales nach 500 Jahren Kolonialherrschaft und Herrschaft der weißen Eliten erstmals ein einfacher Koka-Bauer aus der Gruppe der Aymara Präsident des Landes. Ein wichtiger Schritt von Morales und seiner Partei, das von Indigenen geführte Movimiento al Socialismo (MAS), bestand darin, alle indigenen Stämme einschließlich der Afrobolivianer als Nationen anzuerkennen und ihnen besondere Rechte zum Schutz ihrer Sprache und Kultur einzuräumen. Dazu gehörte es auch, den Stellenwert ihrer spirituellen Traditionen zu stärken und den Einfluss der katholischen Kirche, die als Erbe der Kolonisation betrachtet wird, zurückzudrängen. Statt marginalisiert zu sein, wurden die indigenen Kulturen Boliviens in ein plurinationales Staatsmodell eingebunden. Die mehrere Farben zeigende wiphala wurde zur zweiten Landesflagge, neben Spanisch wurden 36 indigene Sprachen als offizielle Nationalsprachen anerkannt.

In Erfüllung eines Wahlversprechens leiteten Evo Morales und seine Regierung die Verstaatlichung des Erdöl- und Erdgassektors ein. Durch diese Maßnahme gelang es ihnen, für den Staat Einkommen zu erzielen, die zuvor internationalen Konzernen zugeflossen waren. Die Wirtschaft wuchs, und der Gini-Index, der die ungleiche Verteilung von Einkommen misst, konnte um 19 Prozent gesenkt werden. Dadurch lebte die aus Indigenen bestehende Bevölkerungsmehrheit zum ersten Mal seit 500 Jahren nicht mehr in Armut.

Doch im Gegensatz zu den Versprechungen, ein Wirtschaftsmodell einzuführen, das sich an den Bedürfnissen von Mensch UND Umwelt orientiert, beruhte der wachsende Wohlstand auf der Ausweitung des Rohstoffabbaus und einem schonungslosen Raubbau an der Natur. Die Großgrundbesitzer, aus denen die jetzige Übergangsregierung besteht, wurden von Evo Morales und der MAS-Regierung nicht entmachtet. Die Enteignungen nahmen zu, und es wurden sogar Gebiete verwüstet, die in den vergangenen fünf Jahrhunderten verschont geblieben waren. Riesige Regenwaldgebiete wurden niedergebrannt, um Soja-Plantagen zu weichen. Die Sojaproduktion dient jedoch nicht der Ernährung der Bevölkerung, 70 Prozent gehen in den Export. Diese Entwicklung verstärkte die Abhängigkeit von Rohstoffexporten nur noch, bedrohte die Ernährungssouveränität des Landes und machte die ärmeren Bevölkerungsschichten abhängig von staatlichen Transferleistungen, was ihre Autonomie schwächte.

Doch Morales hatte noch ein As im Ärmel. Bolivien verfügt über die weltweit größten Reserven an Lithium. Es befindet sich unter der dicken Salzkruste des auf 3650 Metern Höhe liegenden großen Salzsees Salar de Uyuni. Das Leichtmetall ist ein elementarer Bestandteil für die Herstellung Lithium-Ionen-Batterien, die u.a. für Elektroautos unverzichtbar sind. Das internationale Interesse ist dementsprechend groß. Mit der Ausbeutung des Lithiums sollte der Grundstein dafür gelegt werden, dass Bolivien nicht mehr nur Rohstofflieferant für die Industrienationen ist, sondern eigene Produktionen aufbauen kann. Ab 2022 sollten 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr gefördert und eine Batteriefabrik errichtet werden. Das deutsche Unternehmen ACI Systems sollte die Technik liefern, während die bolivianische Regierung mit 51 Prozent Anteilen die Oberhand über das Unternehmen behält. Sechs Tage vor seiner Absetzung ließ Morales das Projekt jedoch platzen. Was war der Grund? War es die Widerstandsbewegung, die sich in Potosí formiert hat? Die Bewohner*innen der Region fühlten sich wegen der niedrigen Gewinnbeteiligung benachteiligt. Nur drei Prozent der Rohstofferlöse wäre dem Departamento Potosí zugestanden, beim Erlös der Batterieproduktion wäre es gänzlich leer ausgegangen. 2)

Wie geht es weiter?

Die Pläne, Bolivien aus der Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu befreien, sind wohl vorerst gescheitert. Die Gegner von Evo Morales und seiner Partei haben deren Fehler und Widersprüche geschickt ausgenutzt. Für den Mai 2020 sind Wahlen angekündigt. Werden sie fair ablaufen?

Der Kampf zwischen Pachamama und Bibel ist zwar ein symbolischer, er hat jedoch einen höchst realen Hintergrund. Es handelt sich um den Kampf zwischen den städtischen Eliten sowie ihrer internationalen Verbündeten und der marginalisierten Landbevölkerung. Es ist der Widerstand der unterdrückten Völker gegen den Kolonialismus, gegen den Ausverkauf der Natur, gegen das Patriarchat und gegen den globalen Kapitalismus.

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Quellen:
1) Die Wahlen sind eine Falle. Interview mit
Adriana Guzmán Arroyo.
2) Fabian
Krieger: Evos unvollendeter Schachzug

In: Lateinamerika Nachrichten 547/Januar 2020
veröffentlicht in Talktogether Nr. 71/2020