Über die emotionelle Pest

01.02.2024
Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten, Erstarrten, Hoffnungslosen. Der Weg des Lebendigen ist grundsätzlich anders, schwieriger, gefährlicher, ehrlicher und hoffnungsvoller.

Obwohl wir alle wissen, welchen Schrecken und wieviel Elend der Faschismus verursachen kann, erfahren heute rechte und antidemokratische Parteien wieder viel Zuspruch. Laut Wilhelm Reich ist die emotionelle Pest dafür verantwortlich, eine Krankheit, die uns von unseren natürlichen und sozialen Empfindungen abgeschnitten hat. Die Symptome sind unter anderem Empathielosigkeit und Stumpfheit sowie eine destruktive Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt. Ihre Ausbrüche erstrecken sich von alltäglichen Zwischenfällen wie Eifersucht, Klatsch und Verleumdung bis hin zu sadistischer Gewalt und Völkermord.

Der Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957), der die blutigen Kämpfe des Ersten Weltkriegs, die brutalen Auseinandersetzungen im Österreich der Zwischenkriegszeit und den Aufstieg des Hitlerfaschismus miterlebt hat, hat sich zeitlebens die Frage gestellt, wie sich Menschen in gefühllose Tötungsmaschinen verwandeln konnten. Er kam zu dem Schluss, dass dies nur möglich ist, wenn das Machtbedürfnis einiger weniger Anschluss an die latente Grausamkeit des Einzelnen findet. Die antisozialen Handlungen der Menschen sah er aber nicht als Verbrechen ab, sondern als Krankheiten, die zu heilen und denen es vorzubeugen gelte.

In seinem Buch "Charakteranalyse" (1933) schildert er die Beobachtung eines Charakterpanzers bei Patienten, der Gefühle blockiert, um Konflikte zu vermeiden und sie vor unlustvollen und beunruhigenden Empfindungen zu schützen. Dadurch verhärtet sich der Charakter und der Mensch büßt seine Empfindsam- und Lebendigkeit ein. Diese Charakterverhärtung kann sich in einer Muskelverkrampfung manifestieren, die auf Dauer auch körperliche Krankheiten verursachen kann. 

In seiner "Massenpsychologie des Faschismus" (1933) beschreibt Reich den Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie. Reich geht davon aus, dass wir Menschen von Geburt an soziale und mitfühlende Wesen sind. Durch die für das Patriarchat typische Sexualitäts- und Gefühlsunterdrückung werden unsere natürlichen Triebe jedoch so umgeformt, dass wir in unsere wenig lebensbejahende Gesellschaft passen. Durch die entfremdende Erziehung und Sozialisation stauen sich unterdrückte Wut, Enttäuschung, Hass und Angst an, und das macht die Menschen für rechte und faschistische Ideologien empfänglich.

Was ist die emotionelle Pest?

"Ein Organismus, dem die Fähigkeit, sich natürlich fortzubewegen, von der Geburt an dauernd unmöglich gemacht wurde, entwickelt künstliche Formen der Fortbewegung. Er hinkt oder geht auf Krücken. Ebenso bewegt sich ein Mensch mit den Mitteln der emotionellen Pest im Leben fort, wenn ihm von Geburt an die natürlichen Lebensäußerungen der Selbstregelung unterbunden wurden. Der emotionell Pestkranke hinkt charakterlich. Die emotionelle Pest ist eine chronische Biopathie des Organismus. Sie brach mit der ersten massenmäßigen Unterdrückung des genitalen Liebeslebens in die menschliche Gesellschaft ein; sie wurde zu einer Endemie, die die Erdbevölkerung seit Jahrtausenden peinigt."

In seinem weniger bekannten Werk "Christusmord. Die emotionelle Pest des Menschen", das Reich 1953 im Exil in den Vereinigten Staaten verfasst hat, beschäftigt sich Reich mit der emotionellen Pest. Das Wort "Pest" bezeichnet eine ansteckende Krankheit, die sich rasch verbreitet und pandemisch (sich über mehrere Länder ausbreitend) verlaufen kann. Die emotionelle Pest äußert sich vor allem im sozialen Zusammenleben. Ihre Symptome reichen von leichten bis schweren Reaktionen. Sie kann sich darin äußern, dass wir uns über die Nachbarn ärgern, die Besuch haben und sich fröhlich unterhalten, während wir allein zu Hause sitzen, aber auch in Ausbrüchen von Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Reaktionen, gleichgültig, ob es sich um die Diffamierung von Mitmenschen oder um sadistische Kriegstaten handelt, werden laut Reich vom unbefriedigten Trieb nach lustvoller Entspannung gespeist.

Reich sieht die "emotionelle Pest" als endemische Krankheit wie Krebs oder Schizophrenie an. Das Potential, daran zu erkranken, ist so gut wie bei allen Menschen vorhanden, da in unserer Gesellschaft jeder von uns – mehr oder weniger – gepanzert ist. Das Problem besteht darin, dass die gewaltsame Beschränkung der Lebensenergie wiederum neue Menschen hervorbringt, die aus ihrem Trauma heraus andere unterdrücken. Auf diese Weise können ganze Gemeinschaften von der emotionellen Pest angesteckt werden. Die Inquisition des Mittelalters sowie der internationale Faschismus des 20. Jahrhundert stellen laut Reich epidemische Ausbrüche der emotionellen Seuche dar. Stehen wir heute wieder vor einem solchen Ausbruch?

Woran erkennen wir die emotionelle Pest?

Erkennbar ist die Erkrankung daran, dass Handlung und Begründung der Handlung einander niemals decken. In einer gesunden Reaktion fallen Motiv, Handlung und Ziel zusammen, nichts ist daran verhüllt. Bei der emotionellen Pest dagegen ist das wirkliche Motiv verdeckt, und scheinbare Motive – moralische oder ideologische Begründungen – werden der Handlung vorgeschoben. Die Rationalisierungen werden von der befallenen Person auch tatsächlich geglaubt, weil die wahren Beweggründe im Unbewussten liegen. Das führt dazu, dass der Pestanfall nicht als fremd oder krank empfunden wird. Mehr noch: Pestkranke verteidigen ihre Reaktionen scharf und geraten in Unruhe und Wut, sobald an den wahren Motiven gerührt wird.

Ein weiteres Erkennungszeichen der emotionellen Pest ist, dass der Befallene andere nicht in Ruhe lassen kann. Der Gesunde verteidigt sich, wenn andersartige Lebensanschauungen sein Leben und seine Arbeit stören, der Pestkranke dagegen kämpft gegen andere Lebensweisen auch dort an, wo sie ihn selbst gar nicht berühren. Wenn ein Mensch glücklich und befriedigt ist, wird es ihm Freude machen, andere Menschen glücklich zu sehen. Unzufriedene Menschen dagegen sind traurig, weil sie selbst nicht glücklich sein können, und entwickeln Gefühle wie Neid, Eifersucht und Groll auf das Glück der anderen. Es gibt drei Arten, mit dieser Frustration umzugehen:

  • Gesunde Reaktion: Die gesunde Reaktion besteht darin, dass der Mensch identifiziert, was seiner eigenen Zufriedenheit im Wege steht, und versucht, diese Hindernisse zu überwinden.
  • Neurotische Reaktion: Der neurotischen Reaktion entspricht es, sich gegen sich selbst zu wenden, um unerträgliche Gefühle abzuwürgen. Als Resultat tötet der Betroffene alle Emotionen und Sehnsüchte und somit das Leben in sich und leidet an einer gehemmten und eingeschränkten Existenz.
  • Pestkranke Reaktion: Jemand, der von der emotionellen Pest befallen ist, verspürt den Drang, jene Menschen oder Dinge in seiner Umgebung zu unterdrücken oder zu zerstören, welche unerfüllte Sehnsüchte und Begierden bei ihm provozieren, die er nicht ertragen kann. Das wiederum führt zu unerträglicher Angst, Frustration und Hass.
Die meisten Menschen bewältigen ihre Angst mittels neurotischer Abwehrreaktionen wie Hemmungen, Zwänge und Depressionen. "Emotionell pestkranke Charaktere" sind seltener, können aber einen unverhältnismäßig großen und verhängnisvollen Einfluss in der menschlichen Geschichte haben, wenn es ihnen gelingt, die unterdrückte Wut und Destruktivität der Massen an die Oberfläche zu bringen und zu organisieren. Wir sollten uns immer ins Bewusstsein rufen: Ein Diktator kann die Macht nicht ohne die Unterstützung der Menschenmassen ergreifen, entweder durch deren aktive Zustimmung oder durch ihre passive Abhängigkeit und Hilflosigkeit.

Wilhelm Reich und die Klimakrise

"Der gemeinsame Nenner allen grausamen Scheiterns ist der Mensch, der sich selbst von seiner eigenen Natur abgeschnitten hat." (Wilhelm Reich: Äther, Gott und Teufel)

Heute stellt sich angesichts der Klimakrise die Frage, wie kommt es dazu kommt, dass Menschen die Erkenntnisse der Wissenschaft leugnen und ihre Wut gegen Klimaaktivist*innen richten, statt gegen diejenigen, die das Problem verursacht haben oder nichts dagegen tun. Lassen sich die Erkenntnisse, die Wilhelm Reich in Bezug auf den Faschismus entwickelt hat, auch auf die ökologische Krise anwenden? Dieser Frage ist Louisa Janitschke in ihrer Arbeit nachgegangen. (*)

Nach Reich sehnt sich der Mensch nach einer lustvollen und emotionellen Verbindung mit der Welt, insbesondere zu anderem Lebendigen, argumentiert Janitschke. Anhand seiner Forschungen lasse sich auch nachvollziehen, wie sich die empfindsame, respektvolle und offene Haltung gegenüber der Welt, wie wir sie heute noch bei indigenen Völkern finden, im Laufe der Entwicklung in eine destruktive Beziehung zur Natur in uns selbst und um uns herum verwandelt hat. Die Menschen, die durch ihr Handeln globale Katastrophen hervorbringen, hängen aber nicht einfach nur einer falschen Überzeugung an, sie sind auch nicht nur verantwortungslose oder unsolidarische Menschen, die durch Aufklärung, moralische Zurechtweisungen oder Anreize zum Umdenken gebracht werden müssen, ist Janitschke überzeugt, sie sind aufgrund ihrer charakterlichen Strukturen nicht fähig, eine andere Art von Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen oder zu ihrer natürlichen Umwelt einzugehen. 

Diese Unfähigkeit führte Reich darauf zurück, dass ein Mensch, der in den frühen Jahren seines Lebens eine gewaltsame Unterdrückung seiner vitalen Bedürfnisse erleidet, das Vertrauen in sich und seine Umwelt verliert. Die Welt wird zu einer feindseligen Instanz, gegen die er sich schützen ("panzern") muss, damit er ein zumindest konfliktarmes, wenn schon kein freudvolles und erfülltes Leben führen kann. Bei einem Menschen dagegen, der empfindsam verbunden ist mit sich selbst und der Welt, ist ein ausbeuterisches und zerstörerisches Verhalten gegenüber anderen Menschen und der Biosphäre wesentlich weniger wahrscheinlich, so Janitschke, da der Schmerz der Welt zum eigenen Schmerz wird.

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?

"Versucht man die Struktur des Menschen allein zu verändern, widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu verändern, widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann." (Wilhelm Reich)

Wenn wir den Umgang mit unserer natürlichen Umwelt betrachten, können wir nur zum Schluss kommen, dass unsere Kultur sowie unser ganzes Denken und Handeln von der emotionellen Pest geradezu durchdrungen sind. Wir sehen auch, dass das die emotionelle Pest für die meisten sozialen Übel verantwortlich ist, die bisher von jeder Freiheitsbewegung bekämpft wurden und werden. Sie liefert uns aber auch eine Erklärung dafür, warum alle bisherigen Revolutionen den Menschen nicht die ersehnte Freiheit gebracht haben. Somit ist auch nicht anzunehmen, dass irgendeine Freiheitsbewegung Aussicht hat, ihre Ziele zu erreichen, wenn sie sich der organisierten emotionellen Pest nicht scharf und klar entgegenstellt.

Was aber können und müssen wir tun, um die Ausbreitung der emotionellen Pest zu bremsen? Wer an sich selbst einen Anfall der emotionellen Pest erkennt, sollte dem Rat von Wilhelm Reich folgen und sich isolieren, bis der Anfall abklingt, um seinem sozialen Umfeld keinen Schaden zuzufügen. Des Weiteren sollten wir die Existenz der Krankheit anerkennen, ihre Ursachen und Auswirkungen erforschen und uns systematisch mit der Frage auseinandersetzen, wie wir gesellschaftliche Verhältnisse schaffen können, die ihr den Nährboden entziehen.

Wenn wir einmal verstanden haben, dass die emotionelle Pest eine Krankheit ist, können wir den verdeckten Irrationalismus der von ihr Befallenen nachzuvollziehen. Die Forschungen von Reich und anderen, die sich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, sollten endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen angesichts der katastrophalen Lage, in die sich die Menschheit hineinmanövriert hat, zusteht. Schließlich sollten wir uns überlegen, wie wir geeignete Erziehungsmethoden entwickeln können, um nachfolgende Generationen gegen die Krankheit zu immunisieren. Dabei kommt uns Reichs Vision von einer Gesellschaft entgegen, die ohne Repression auskommt, weil sie den Menschen mit seinen Bedürfnissen achtet und ihn nicht ändern, sondern nur befreien will, was naturgegeben ist.

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(*) Louisa Alexandra Janitschke, 2021: Welche Ansatzpunkte bietet die Forschung von Wilhelm Reich für das ursächliche Verständnis der sozialökologischen Krise? Masterarbeit an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

erschienen in Talktogether Nr. 86/2023

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